Rechte näher am Ziel
Die Binsenweisheit, dass, wer Wahlen gewinnt, noch nicht über die Macht verfügt, wurde mit dem Urteil gegen Argentiniens Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner wieder einmal bestätigt. Bleiben nach einem Erfolg progressiver Kräfte die alten Strukturen und Eigentumsverhältnisse bestehen, ist die Rückkehr der Rechten oft nur eine Frage der Zeit. Da nützt es dann auch nichts, dass zahlreiche lateinamerikanische Staats- und Regierungschefs jetzt den Urteilsspruch als politisch motiviert verurteilen.
Als erster hatte Argentiniens Präsident Alberto Fernández den Prozess gegen seine Stellvertreterin als Inszenierung von Richtern kritisiert, »die den Kreisen der Macht dienen«. Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador sagte, er zweifle nicht daran, dass Kirchner »ein Opfer der Rache und der antidemokratischen Niedertracht des Konservatismus ist«. Ähnlich äußerten sich die Expräsidenten Ernesto Samper (Kolumbien), Evo Morales (Bolivien) und Dilma Rousseff (Brasilien), die an den Fall des künftigen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva erinnerten, der mit unbewiesenen Anschuldigungen und Willkürurteilen aus der Politik verdrängt werden sollte. In Ecuador ist der Rechten dies mit konstruierten Urteilen gegen den linken Expräsidenten Rafael Correa und dessen Vize Jorge Glas gelungen. »Die Kugeln der argentinischen Militärs werden heute zu Gerichtsurteilen«, hieß es beim lateinamerikanischen Sender Telesur. Pablo Iglesias, der ehemalige Vizepremier Spaniens, kommentierte im Sinne von Karl Marx, der die Justiz als Instrument der Herrschenden zur Aufrechterhaltung ihrer Macht im Klassenkampf bezeichnete, der Fall Kirchner sei ein »Kampf zwischen der Justiz und der Demokratie«.
Trotz der einhelligen Ablehnung des von Honduras’ Präsidentin Xiomara Castro als »Lawfare-Anschlag« beschriebenen Urteils im progressiven Lager dürfte die argentinische Rechte ihrem Ziel, die Regierung zu schwächen und mit Kirchner die wichtigste Vertreterin der peronistischen Bewegung von künftigen politischen Ämtern fernzuhalten, ein gutes Stück nähergekommen sein. In Lateinamerika ist die Lawfare-Taktik mittlerweile, neben der Anzettelung bunter Revolutionen, zur bevorzugten Methode für Regime-Change-Versuche geworden. Dabei geht es in Argentinien und anderen Ländern nicht nur um die Rückkehr der privilegierten nationalen Wirtschaftseliten, sondern auch um wirtschaftliche und geopolitische Ziele ausländischer Interessengruppen und Staaten. Unter der von Fernández und Kirchner geführten Regierung hat Argentinien einen Antrag zur Aufnahme in den aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehenden Staatenbund BRICS gestellt. Mit Aufnahme des Landes würde die Rolle Chinas und Russlands in der Region weiter gestärkt. Beim Urteil gegen Kirchner muss die Frage »Cui bono?« deshalb auch vor diesem Hintergrund gestellt werden.