Mit Marx und Jesus
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Zum 100. Geburtstag des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire
Von Christoph Horst
Als der Brasilianer Paulo Freire in den 1960er Jahren seine »linkskatholische« Pädagogik der Befreiung praktizierte, konnte er sich mit seinen Ideen noch an einer mächtigen autoritären Pädagogik reiben und ab den 70ern entsprechend Anklang in der westeuropäischen Linken finden. Der Erzieher und der Zu-Erziehende sollten in ein dialogisches Verhältnis treten; Wissensvermittlung solle mehr sein als ein Anhäufen von Fakten im Zu-Erziehenden.
Inzwischen hat sich Pädagogik im Sinne Freires weitgehend liberalisiert. Der Vordenker ist seit 24 Jahren tot, an diesem Sonntag wäre er 100 Jahre alt geworden. Seine zentrale Leistung, die Anpassung an die jeweils gewünschten Verhältnisse, ist geblieben. Es herrscht allerdings mittlerweile die Meinung vor, dass dies besser funktioniert, wenn man die Zu-Erziehenden mit einbezieht und ihnen somit vorgaukelt, dass das, was man mit ihnen vorhat, ihr eigenes Interesse sei. Insofern wirkt die Forderung, Bildung müsse mehr sein als Einprügeln des Lernstoffs, banal. Auch damals war sie nicht neu. Schon die Reformpädagogik wollte den ganzen Menschen bilden – was auch immer das heißen sollte. Freire schien aber ein besonderes Charisma zu haben, so dass er trotz bekennenden Eklektizismus populär wurde.
Denn das meiste, was Freire schrieb, findet sich schon woanders wieder: die dialogische Idee beispielsweise bereits bei Friedrich Schleiermacher. Doch es ist Freire anzurechnen, dass er die Übernahme von Ideen nicht kaschiert oder entschuldigt hat. Schließlich macht es einen Gedankeninhalt nicht falsch, wenn er schon mal formuliert wurde. Dass Bildung mehr sein müsse als reine Wissensvermittlung – Freires Schlagwort dafür war die »Bankiers-Erziehung« – ist inzwischen so verbreitet, dass überhaupt nicht mehr hinterfragt wird, warum dies eigentlich so sein soll.
Warum nicht den Kindern den Wissensstoff beibringen, den sie beigebracht kriegen wollen, und sie darüber hinaus mit Erziehungszielen in Ruhe lassen? Ist Kindern wirklich gedient, wenn man sie nach Menschenbildern, Ideologien und gesellschaftlichen Erfordernissen formen will und als ganzen Menschen anstatt als konkreten Menschen, der über die Anwendung seiner erlernten Fähigkeiten frei entscheidet?
Freire hat sich überwiegend in der Alphabetisierung Erwachsener bewährt. Er hatte viel mehr vor mit seinen Zöglingen, als ihnen nur das Lesen beizubringen. Er wollte ihnen das Leben beibringen – also das aus seiner Sicht richtige. Ein Wort galt ihm erst dann als gelernt, wenn es seinem Sinn nach in den Zusammenhang interpretiert werden konnte. Das Wort »Boden« galt erst dann als gelesen, wenn man »Spekulation« mitdenken konnte. Das Dialogische wurde dadurch zur Farce, dass Freire das Ziel seiner Erziehung dem Erziehungsvorgang vorausgesetzt hat. Das Lernen des Lesens hat nicht den Zweck, dass die Menschen lesen lernen können, sondern es diente Freires höheren Idealen: der Ausbildung von kritischem Bewusstsein – »conscientização« auf portugiesisch.
Mögen die Inhalte des Bewusstseinsbildungsprozesses nun richtig oder falsch sein, eines sind sie auf jeden Fall: dem Schüler von außen oktroyiert. Von der pädagogischen Teleologie ist es dann nur noch ein kurzer Schritt zur Theologie. Freire forderte vom Pädagogen, dass er »den tiefen Sinn von Ostern zu leben hat« (Lutherische Monatshefte 9, 1970). Die Quellenangabe enthält einen wichtigen biographischen Hinweis: Freire war tief verstrickt in katholische und ökumenische Netzwerke. So war er Bildungsberater des Weltkirchenrats und versuchte dort, Marx und Jesus zusammen zu denken. Vieles in seiner Pädagogik klingt nach Gottesdienst: Der Erzieher »muss andererseits dem ›Zögling‹ nahebringen, dass er als Nur-Zögling des Erziehers ›sterben‹ muss, um als ›Zögling-Erzieher‹ des ›Erzieher-Zöglings‹ wiedergeboren zu werden.«
Manche Aussagen Freires sind auch schlicht inhaltsleere Sprüchlein, die noch heute an den Pinnwänden in Gemeindezentren und Konfirmandengruppenräumen zu lesen sind: »Erziehung ist eine Tat der Liebe und damit eine Tat des Mutes. Sie darf keine Angst vor der Analyse der Realität haben.« Viele schöne Worte zusammengestellt, ergeben allerdings noch keinen Erkenntnisgewinn. Freire scheint als Kirchendiener und Praktiker der Alphabetisierung in Lateinamerika erfolgreich gewesen zu sein. Ebenso hat er sich als Kritiker einer US-zentrierten Entwicklungspolitik einen Namen gemacht. Als Pädagoge machte Freire das gleiche wie alle anderen Pädagogen: Er nutzte die Schüler als Material seines Bildungsziels und verhinderte dadurch allen klingenden Worten zum Trotz eine tatsächlich freie Entwicklung des Einzelnen.