Schönheit lernen
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Von Ken Merten
Der Autor berichtet auf der Frankfurter Buchmesse von seinen Erfahrungen auf Kuba im Krisenjahr 2022: Cuba-libre-Empfang, jW-Stand, Halle 3.1, B 48, Fr., 21.10.2022, 17 Uhr
Als Reaktion auf die gewaltsamen Proteste am 11. Juli 2021 mit auffallend niedrigem Altersdurchschnitt wurde das Medienprojekt Con Filo ins Leben gerufen. Zweimal pro Woche wird unter dem Titel im kubanischen Fernsehen auf aktuelle Debatten eingegangen. Nichts Neues, wäre Con Filo nicht multimedial. Es richte sich explizit an junge Kubanerinnen und Kubaner, die sich primär online informieren, statt den Fernseher anzuschalten. Con Filo reagiert so auch auf den Umstand, dass sich durch die Pandemie Teile des öffentlichen Lebens in die sozialen Netzwerke verlagert haben.
Einen Tag nach der Abstimmung über den »Código de las Familias« am 25. September, dem zwei Drittel derjenigen, die abstimmten, bestätigten, postete Con Filo über seinen Telegramkanal ein Meme, das die Tennisprofis Roger Federer und Rafael Nadal beim Abschiedsmatch Federers zeigt. Sie halten darauf Händchen, Federer ist in Tränen aufgelöst, auch Nadal weint. »Homophobe, wenn sie das neue Familiengesetz bestätigen«, steht darüber.
Streitbar, ob das Meme formal wirklich eines ist, inhaltlich sitzt es: Die Widersprüche sind da. Nicht allein kulturell durch einen ausgeprägten, nur langsam zurückgehenden Machismo. Als wir im Mai die Kinderärztin Aleida Guevara trafen, Ches Tochter, wies sie auf Fragen der Vermittlung hin: »Zwei besondere Tage stehen im Mai an, der Tag der Agrarreform, der in Kuba als Tag der Bauern gefeiert wird, und der internationale Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie. Beide sind am 17. Mai.« Damit muss man umgehen lernen.
Später haben wir immer wieder mit Kubanern geredet, die die Ehe für alle zwar ablehnen, dem Familiengesetz aber überwiegend wohlwollend gegenüberstehen und ihre Zustimmung bekundeten.
Con Filo prescht nicht über solche Widersprüche hinweg, sondern thematisiert sie. Und das Projekt ist nicht nur in den sozialen Netzwerken und im TV präsent: Einmal pro Monat findet ein Konzert im Garten der Casa de Amistad statt, wo sich auch das Institut für Völkerfreundschaft (ICAP) befindet. Pizza gibt es als ganzes Blech, Cocktails und Bier günstig, Bücher, Fahnen und Poster an Verkaufsständen. Die Musik der Bands mäandert zwischen Reggaeton, Rap und claptoneskem Countryrock. Dazwischen Debussy, während auf der Leinwand ein Comic läuft, der darüber aufklärt, dass online nicht alles Fakt ist, was sich Fakt nennt. In Sachen Medienkompetenzen ist man in Kuba noch nicht in der Gegenwart angekommen – ein Einfalltor für jene, die von Miami aus noch die dümmste Lüge über den Sozialismus streuen.
Ein paar Tage später: An der Escuela Nacional de Arte wird Schönheit gelehrt. Der Campus befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Country Clubs in Havannas Stadtteil Playa. Wer die Bilder von Che beim Golfspielen kennt – sie wurden dort geschossen. 1961 gründete man die Kunstuniversität und fügte nach und nach den Gebäuden im neokolonialen Stil, der vor der Revolution dem Privatvergnügen reicher, weißer US-Amerikaner und Kubaner vorbehalten war, weitere Bauten hinzu, um Platz für 700 Studierende zu schaffen, die gegenwärtig dort lernen.
Entsprechend eklektisch sieht es hier aus: ein Backsteingebäude im katalanischen Stil mit tunnelförmigen Fluren für die bildende Kunst und ihre Werkstätten. Vorbei am Hauptgebäude, wo sich ein Schlagzeuger für seine Aufnahmeprüfung an einer Snare warmtrommelt und eine Aspirantin das Mundstück ihrer Tuba von Spucke befreit, geht es an Ziegen vorüber und über eine Brücke zum Theaterkomplex, der Bühnen verschiedener Größen und Lichtverhältnisse bietet, auch eine Freiluftbühne an einem Hang, gesäumt von Bäumen; drinnen dann Wendeltreppen und venezianisch-enge Gänge.
Man könne hier gut Shakespeare spielen, meint der stellvertretende Rektor Ernesto Tareaux, der uns führt. Wir kommen auf die aktuelle Situation zu sprechen. 2019 war es noch möglich, alle Materialien zu importieren, die die Studierenden brauchen. Jetzt ist das wegen der Krise weitaus schwieriger. Auch Corona hat den Schulbetrieb stark beeinflusst: Maler in Ausbildung, die nicht in Havanna, sondern auf dem Land wohnen, waren gezwungen, den Dozierenden Fotos ihrer Arbeiten per Whats-App zu schicken.
»In Kuba gab es einen großen Fortschritt in der bildenden Kunst«, sagt er und bezieht sich damit auf das neue, verbesserte Urheberrecht, das seit Mai dieses Jahres das Gesetz von 1977 ersetzt.
Trotzdem sind Kunstschaffende auf Kuba alles andere als privilegiert. Mittel, um langfristig Stipendien zu vergeben, existieren aktuell nicht, man ist »entweder aufs anderweitige Geldverdienen angewiesen«, sagt Tareaux, oder man wird von ausländischen Agenten entdeckt, schließlich ist auch Kuba »integriert in den Kunstmarkt.« Vor allem bildende Künstler und Filmemacher hätten am ehesten die Chance, groß rauszukommen. Was jedoch auch nicht von der Hand zu weisen ist: Die bildenden Künstler und Musikerinnen dort, wo Touristen ihren Spaß haben und ihre Euros loswerden wollen, sind Legion.