Am Abgrund
Operation Mongoose
Die Entwicklungen, die zur akuten Krise führten, hatten mehr als ein Jahr zuvor begonnen. Nach der missglückten Invasion durch CIA-Söldner im April 1961 in der Schweinebucht hatte Washington zunächst auf Sanktionen gesetzt, um die Revolutionsregierung in Kuba zu stürzen. Da die Wirtschaftsblockade infolge des kubanischen Ausbaus der Beziehungen zur Sowjetunion und den sozialistischen Ländern Osteuropas nicht die beabsichtigte Wirkung erzielte, bereiteten die USA eine Intervention mit eigenen Truppen vor. Das Drehbuch dafür war bereits seit November 1961 in einem Programm mit dem exotischen Namen »Operation Mongoose« entworfen worden. Unter der Aufsicht des Justizministers und Präsidentenbruders Robert Kennedy wurde es zum größten Unternehmen, das US-Geheimdienste bis dahin durchgeführt hatten. Ende 1961 richteten mehr als 600 CIA-Agenten eine Kommandozentrale auf dem Campus der Universität von Miami ein, von wo aus Sabotage- und Terroreinsätze koordiniert und Pläne zur ökonomischen Destabilisierung der Insel umgesetzt wurden. Das letztendliche Ziel der »Operation Mongoose« bestand darin, in Kuba ein Chaos aus Hunger, Not und Gewalt anzurichten, um einen anschließenden US-Militäreinsatz zu rechtfertigen. Sollte diese Situation nicht erreicht werden, empfahlen die Verantwortlichen, einen Kriegsgrund vorzutäuschen und die US-Truppen in Marsch zu setzen. Die Richtlinien für den Einmarsch mit Namen wie »ORTSAC« (Castro in umgekehrter Richtung) wurden im Weißen Haus ständig aktualisiert. Präsident Kennedy wünschte, dass nach seinem Einsatzbefehl die Landung auf Kuba innerhalb von drei Tagen durchgeführt werden konnte. Nikita Chruschtschow hatte bereits während der Kämpfe in der Schweinebucht erklärt, dass sein Land den Kubanern in einem derartigen Fall jede erforderliche Hilfe leisten werde, um eine Invasion zurückzuschlagen. Im Laufe des Jahres 1961 hatte der sowjetische Geheimdienst KGB dann zahlreiche Informationen über die konkrete Planung der USA erhalten, Kuba – diesmal mit ihrer Marine, der Luftwaffe und Bodentruppen – zu überfallen.
Im Mai 1962 wurde Chruschtschow bei einem Staatsbesuch in Bulgarien von der Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen des Typs »Jupiter« in der Region Izmir (Türkei) unterrichtet. Die Raketen konnten mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden und hatten eine Reichweite von rund 2.400 Kilometern. Während die UdSSR das Gebiet der USA mit ihren Raketen nicht erreichen konnte, deckten die nunmehr in drei NATO-Staaten aufgestellten US-Mittelstreckenraketen einen großen Teil des sowjetischen Territoriums ab. Der Vorgang alarmierte den Ersten Sekretär der KPdSU, der erkannte, dass die USA keine Bedenken hatten, nukleare Waffen außerhalb des eigenen Territoriums bei Bündnispartnern in Stellung zu bringen. Noch im selben Monat stimmte der Verteidigungsrat der UdSSR dem Vorschlag zu, im Gegenzug zur US-Bedrohung und zum Schutz Kubas vor einer Invasion sowjetische Mittelstreckenraketen auf der Insel zu stationieren.
Moskau schickte den Oberbefehlshaber der Luftverteidigung und der Strategischen Raketentruppen, Marschall Sergei Semjonowitsch Birjusow, sowie das ZK-Mitglied Scharaf Raschidowitsch Raschidow nach Havanna. Sie informierten den Oberkommandierenden Fidel Castro und dessen Bruder, Verteidigungsminister Raúl Castro, über die Invasionspläne der USA und schlugen zur Abschreckung die Stationierung einer kleinen Anzahl von Mittelstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen vor. Die Kubaner zögerten. Sie wollten keine Atomwaffen in ihrem Land. »Ich gestehe, dass ich mich nicht besonders wohl bei dem Gedanken fühlte, solche Waffen in Kuba zu haben«, vertraute Castro seinem Biografen Ignacio Ramonet an. Er schlug Moskau vor, statt dessen eine Erklärung abzugeben, dass die Invasion Kubas als Angriff auf die Sowjetunion mit entsprechenden militärischen Konsequenzen betrachtet würde. Die USA, so Castros Kalkül, würden es nicht wagen, der UdSSR den Krieg zu erklären und damit den Beginn des dritten Weltkrieges zu riskieren.
Chruschtschow entgegnete, dass es töricht sei zu erwarten, die zweite US-Invasion würde ebenso schlecht geplant werden wie die erste. »Warnend wies ich darauf hin, dass Castro im Falle einer weiteren Invasion gegen Kuba vernichtet werden würde, und sagte, wir seien die einzigen, die verhindern könnten, dass sich eine solche Katastrophe ereignet«, schrieb er in seinen Memoiren. Sollten die USA einen Blitzkrieg gegen Kuba führen, so die Überlegung des Generalsekretärs, würden sowjetische Truppen zu spät auf der Insel eintreffen, um den Kubanern beistehen zu können. Fidel Castro beriet sich zunächst nur mit Raúl und Che Guevara, denen Chruschtschows Argumente einleuchteten. Alle drei kamen schließlich zu dem Ergebnis, ihr Land im Ernstfall nur mit Hilfe der UdSSR und des sozialistischen Lagers gegen die Aggressionspläne der USA verteidigen zu können. Auch die Nationale Leitung der Revolution stimmte dem Vorschlag zu und gab grünes Licht für »Anadyr«, die größte Militäroperation der UdSSR im Kalten Krieg.
Sofort wurde mit dem Bau der Anlagen für Trägerraketen, Sprengköpfe und Flugzeuge begonnen. Auf Einladung des sowjetischen Verteidigungsministers Rodion Malinowski reiste Raúl Castro am 2. Juni 1962 zu zweiwöchigen Beratungen nach Moskau und unterzeichnete mehrere Beistandsverträge. Bis zum Herbst war jedoch noch keine einzige Mittelstreckenrakete in der Karibik angekommen. Während Fidel Castro den Plan zur Stationierung der Raketen auf Kuba am liebsten sogleich öffentlich machen wollte, war es Chruschtschows ausdrücklicher Wunsch, damit zu warten. Die USA, so ließ er ausrichten, sollten die Raketen auf Kuba möglichst erst entdecken, wenn sie einsatzbereit seien. Dann wolle er ihre Stationierung persönlich vor den Vereinten Nationen in New York begründen.