»¡Perfecto!«, aber …
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Von Ken Merten
»Französisch« nennt man hier in Santiago die Einflüsse, die Stadtbild und Kultur prägen. Dabei sind sie strenggenommen haitianisch. Nach der erfolgreichen Sklavenrevolution auf der Nachbarinsel, flohen 1791 zahlreiche Sklavenhalter mit ihrem menschlichen Besitz nach Kuba, nächster Halt: Santiago. Sklaverei und später die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wichen ganz – die von den Migranten nach Kuba gebrachte Cafékultur blieb.
Wir trinken Kaffee in einem staatlichen Restaurant, für uns günstig, für unsere kubanische Freundin nicht. Seit der Pandemie, die die Inflation zum Explodieren brachte, war sie nicht mehr dort, weil sie es sich als Universitätsangestellte nicht mehr leisten kann. Auch zwanzig Pesos für die Kutschfahrt, die Avenida Jesús Menéndez an der Bucht entlang, können für sie ins Kontor schlagen. Einer der Maní-Händlerinnen etwas abkaufen, die mit Ratsche auf sich aufmerksam machen und im Blechkasten ein kleines Feuer mit sich herumtragen, damit die gerösteten Erdnüsse warm bleiben, ist für Kubanerinnen und Kubaner mit geringem Einkommen das, was man sich ab und an gönnt.
Der Probleme sind viele: Am Malecón, neben dem großen »Cuba«-Schriftzug, um den sich Mitglieder der Schülerorganisation FEEM (Federación de Estudiantes de la Enseñanza Media, Verband der Sekundärschülerinnen und -schüler) aus dem Umland auf Ferienexkursion in die Provinzhauptstadt für Schnappschüsse tummeln, reden wir mit zwei Santiagoern. Kostenloses Gesundheitssystem: »¡Perfecto!«, aber dank der schwierigen Lage, der Blockade durch den US-Imperialismus, des Einbruchs im Tourismussektor durch Covid, des Krieges zwischen Russland und der Ukraine fehlt es an Medikamenten zur Behandlung. Krebserkrankte bekommen ärztliche Betreuung, aber lebensverlängernde Mittel dürfen nicht importiert werden, weil sonst Sanktionen der USA drohen.
Einer der beiden hat Maschinenbau studiert und verdient nun unterhalb des allgemeinen Durchschnitts. Die Libretta, eine Subvention, die besonders jene unterstützen soll, denen die Kaufkraft fehlt? »¡Perfecto!«, aber selbst wenn man sparsam ist, also sparsam isst, reichen die subventionierten Lebensmittel keine zwei Wochen. Alles andere, kann man sich ausrechnen, ist kaum erschwinglich; sich bei einem Monatsgehalt von 3.500 Pesos (nach offiziellem Wechselkurs rund 146 Euro; auf den Straßen und seit kurzem auch in den offiziellen Wechselstuben für Touristen gilt jedoch nicht der Kurs von 1:24, sondern 1:120) das Bier für 250 Pesos leisten, das wir uns an der Fressmeile, die zu Ferienzeiten am Hafen aufgebaut ist, gekauft haben? Nicht drin.
Während wir uns unterhalten, werden Container von einem Schiff verladen. Der Schornstein in Hafennähe spuckt Rauch aus. Rund um die Uhr fügt der Schornstein etwas zu den Wolken über der Sierra Maestra hinzu. Ich erinnere mich an das Motto vom diesjährigen 1. Mai: »Cuba vive y trabaja«, Kuba lebt und arbeitet. Das tut es. Wir fragen, ob sie, wie so viele junge Menschen gerade, das Land verlassen wollen würden. Ja, sagen sie, »aber dann«?
Ein Begradigungsversuch in bezug auf die schiefhängende Kaufkraft der kubanischen Bevölkerung ist der neue staatliche Verkauf von Devisen: Seit dem 23. August können an einigen vom Staat eingerichteten Stellen Pesos gegen US-Dollar oder Euro getauscht werden. Starke Währungen, auf die bisher meist nur jene Zugriff hatten, die im Tourismusbereich arbeiteten. Dabei solle, wie das Onlineportal Cubadebate am 1. September schreibt, »das Land die knappen Devisen nicht von seinen Kernzwecken – wie dem Kauf von Nahrungsmitteln und Treibstoff – abziehen«. Statt dessen soll die Verteilung der so oder so im Land kursierenden Fremdwährungen gerechter gestaltet werden. Die Schlangen vor den Wechselstuben dürften mindestens so lang sein wie vor den Geldautomaten, die in Zeiten der Inflation oft geleert sind, ehe alle ihren Lohn abheben können.
Der Begriff der Sonderperiode ist nicht mehr nur ein Ding in den Köpfen und Gesprächsstoff an den Bushaltestellen. Zwei Tage nachdem US-Präsident Joseph Biden den »Trading with the Enemy«-Act gegenüber Kuba um ein weiteres Jahr verlängert hat, schreibt die Juventud Rebelde, Zeitung des Kommunistischen Jugendverbands, am 3. September, dass der Vergleich der jetzigen Situation mit der Sonderperiode der 1990er »nicht grundlos« sei.
Trotzdem müsse man trennscharf bleiben, anerkennen, dass Kuba aus den Erfahrungen gelernt und sich in den letzten 20, 30 Jahren etwas im Weltgefüge getan hat. Das sagt uns auch ein älterer Genosse, den wir tags drauf treffen: »Damals in den 90ern fuhr kein Auto, nirgends. Alle fuhren Fahrrad. Es gab keinen Sprit«, sagt er. Und: »Ich habe damals vier Jahr lang kein Öl zum Kochen gehabt. Ich bin richtig dünn geworden. Und er auch«, sagt er und zeigt auf einen anderen Genossen, der dazu nickt. Beide sind, wie die meisten im Land, nicht schmal.