Kuba – ein bisschen Objektivität, bitte!
https://www.nzz.ch/meinung/franco-cavalli-kuba-ein-bisschen-objektivitaet-bitte-ld.1638169
Auf Kubas Strassen haben in jüngster Zeit so viele Menschen wie kaum je gegen die desolaten wirtschaftlichen Zustände im Land protestiert. Die Medien zeichneten mehrheitlich ein verzerrtes Bild der Ursachen, so der ehemalige SP-Fraktionschef Franco Cavalli.
Seit 1986 kooperiere ich mit dem kubanischen Gesundheits- und Forschungssystem, weswegen ich seither fast jährlich auf der Insel war. Ausser 2007, als ich eine Schweizer Parlamentarierdelegation leitete, habe ich alle Kosten immer selbst getragen. Ich kenne also die kubanische Wirklichkeit recht gut, inklusive der ausufernden Bürokratie und der aufreibenden Langsamkeit in der Verwirklichung der seit langem beschlossenen Reformen. Diese Schwächen hat ja letzthin selbst der kubanische Präsident Díaz-Canel öffentlich und auch in seinen Diskussionen mit gewaltfreien Demonstranten zugegeben.
Völkerrechtswidrige Wirtschaftsblockade
Was aber zurzeit bei uns, NZZ inklusive, in Zusammenhang mit regierungskritischen Demonstrationen über Kuba erzählt wird, hat weniger mit einer seriösen, sondern vielmehr mit einer akritischen Berichterstattung zu tun, wo zwischen den spärlichen Fakten und den vielen Fake News kaum unterschieden wird. Zudem werden die Rahmenbedingungen, die diese Ereignisse weitgehend erklären, kaum richtig erwogen. Die seit sechzig Jahren existierende US-Wirtschaftsblockade gegen Kuba wird zwar meistens erwähnt, häufig aber auch nur um zu betonen, dass diese als Ausrede missbraucht wird, um die jetzigen Probleme zu rechtfertigen.
«Lassen uns die USA in Ruhe, dann werden wir auch bei uns in Kuba die Demokratie weiterentwickeln können.» (Aussenminister Felipe Pérez Roque)
Diese ist aber die längste und am meisten völkerrechtswidrige Wirtschaftsblockade der Geschichte, unter welcher Kuba Schäden von Hunderten von Milliarden erwachsen sind. Und diese Blockade kann nur mit derjenigen von Frankreich verglichen werden, die das damals relativ blühende Haiti nach dessen Unabhängigkeitserklärung in das Armenhaus verwandelte, das es heute noch ist. Das ist Washington bis heute im Falle Kubas (noch) nicht gelungen, nicht einmal, als beim Untergang der Sowjetunion das Bruttosozialprodukt der Insel plötzlich um mehr als fünfzig Prozent abnahm.
Dass es damals den Kubanern gelungen ist, dem erhöhten US-Druck zu widerstehen, kommt fast einem Wunder gleich, das ohne die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung kaum zu erklären ist. Mit fast 300 zusätzlichen Verordnungen hatte Trump ab dem Beginn der Pandemie und dem damit verbundenen Tourismus-Stopp durch Aushungern und eine millionenschwere Hetzkampagne auf Kuba eine Revolte anzuzetteln versucht. Transportschiffe wurden durch Androhung enormer Bussen blockiert, sogar die finanziellen Überweisungen der US-Kubaner an ihre Familien auf der Insel (5 Milliarden Dollar jährlich) wurden verunmöglicht, von der weltweiten Bankenblockade (auch der Schweiz) ganz zu schweigen.
Die Not einer Kriegssituation
Die dadurch verursachte Wirtschaftsmisere hat auch die Impfkampagne mit den sehr wirksamen kubanischen Impfstoffen stark verlangsamt, was zum Teil die lokale Corona-Welle erklärt. Trotz seinen Versprechen im Wahlkampf hat Biden keine der Massnahmen Trumps widerrufen. Dies aus Furcht vor den Ergebnissen in Florida bei den bevorstehenden Wahlen im Jahr 2023, was die Unmoral dieses Verhaltens keineswegs rechtfertigt. Die Folge war eine offene Revolte in der demokratischen Linken; sie führte zum Aufruf «Let Cuba Live!», der unlängst in der «New York Times», unterschrieben von mehr als 400 weltbekannten Persönlichkeiten (von Chomsky bis Lula), veröffentlicht wurde.
Aber zurück zu unseren Medien: Während Hunderte von Toten und Desaparecidos bei der gegenwärtigen Protestwelle in Kolumbien nur eine Randnotiz wert sind, wird täglich über Kuba geschimpft. Der damalige kubanische Aussenminister Felipe Pérez Roque, ein guter Kenner unseres Landes, sagte zu unserer parlamentarischen Delegation: «Wir leben in einer Kriegssituation, die schlimmer ist als diejenige der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Damals war auch bei euch die Demokratie eingeschränkt. Lassen uns die USA in Ruhe, dann werden wir auch bei uns die Demokratie weiterentwickeln können.»
Franco Cavalli ist Präsident von Medicuba Europa und Alt-Fraktionschef SP im Bundesparlament.