Ein Tag mit Evo
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Putsch, Flucht und Wahlsieg der Bewegung zum Sozialismus: Ein Besuch bei Boliviens sozialistischem Expräsidenten Morales
Von Anton Flaig, Cochabamba
Hintergrund: Über Grenzen hinweg
Anfang der Woche zog es Evo Morales erneut in das Nachbarland Peru, wo er sich mit bedeutenden sozialen Bewegungen und Gewerkschaften des Landes traf. Als Vorsitzender der Kokabauerngewerkschaft »6 Federaciones del Trópico de Cochabamba« sprach Boliviens Expräsident dort über seine Erfahrungen als Gewerkschaftsführer. Zudem gab er hinter den Kulissen Ratschläge, wie verhindert werden könne, dass die neugewählte peruanische Linksregierung unter Pedro Castillo mit falschen Vorwürfen von Wahlbetrug destabilisiert wird oder es gar zu einem Putsch kommt.
»Wir haben die Geschichte der Bauernbewegung, den Beginn unserer Kämpfe und die Geschichte, die wir erlebt haben, Revue passieren lassen«, erklärte Morales am Mittwoch am Rande eines Gewerkschaftskongresses in Lima. Man habe vereinbart, eine internationale Konferenz zu organisieren, »die friedliche Strategien zur Verteidigung der Regierung von Pedro Castillo definiert und ein plurinationales Amerika fördert, das von den Menschen kommt und für die Menschen da ist«.
Morales wird von Linken in ganz Amerika als Vorbild dafür angesehen, wie soziale Bewegungen und Gewerkschaften die politische Macht übernehmen und die Gesellschaft zum Wohle von Bauern und Arbeitern neu organisieren können. Als Parteivorsitzender der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Vorsitzender der »6 Federaciones« versucht er, progressive Kräfte in der Region zu vereinen. Dazu soll auch die Allianz Runasur dienen, die noch in diesem Jahr ins Leben gerufen werden soll.
Es überrascht nicht, dass die Ankunft von Morales in Peru von rassistischer und antikommunistischer Hetze der weißen Oberschicht Limas begleitet wurde. Bereits im Rahmen der Stichwahl um die Präsidentschaft in Peru hatte die rechte Kandidatin Keiko Fujimori den Bolivianer scharf für dessen Unterstützungserklärung für Castillo angegriffen. Nach dessen Amtseinführung ist Morales nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit in Peru. (anf)
Evo Morales ist zwar schon 61 Jahre alt, doch er sieht jünger aus. Der ehemalige Präsident Boliviens von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) meint, der Sport und der Genuss einer Paste aus gestampften Kokablättern mit Honig habe großen Anteil daran. Es ist der 5. August, wir befinden uns zum Interview auf dem Grundstück von Morales im Trópico von Cochabamba. Während des Interviews reicht ihm seine Sekretärin Cintia die Paste in einer Tasse, die er genüsslich zu sich nimmt. Sein Umfeld nennt Morales freundschaftlich Evo, und auch wir sind sofort mit ihm sowie seinem gesamten Umfeld per Du.
Ramiro García, Direktor von Radio Kawsachun Coca, der Station von Morales’ Gewerkschaft der »6 Federaciones del Trópico«, erzählt uns auf der Fahrt zum Ort des Treffens, der Expräsident stehe wie zu Zeiten seiner Amtszeit (2006–2019) jeden Morgen um fünf Uhr auf. Erst nach dem Frühsport nehme er ein Frühstück zu sich. Und auch sonst behielt der Politiker und Aktivist seinen Lebensrhythmus weitgehend bei. Obwohl seit bald zwei Jahren nicht mehr Präsident des Plurinationalen Staats Bolivien sind die Arbeitstage von Morales vollgepackt. Jeden Tag nimmt er an Treffen mit Gewerkschaftern und Politikern oder an Veranstaltungen teil, gibt Interviews und hat sein tägliches Programm bei Radio Kawsachun Coca, »Evo, der Anführer der einfachen Leute«. Den Worten nach dem Putsch im November 2019 ließ er Taten folgen. Damals hatte er erklärt, er werde zwar fortan nicht mehr Präsident sein, jedoch weiter für eine gerechte Gesellschaft kämpfen.
Im Interview erzählt Morales, wie die Putschisten nach dem Staatsstreich Geld für seine Festnahme boten. So hätten Gewerkschafter der Kokaföderation in Chimoré, der auch der Anführer Leonardo Loza angehört, Polizisten mit einem schwarzen Koffer voll 50.000 US-Dollar schnappen können. Dem Expräsidenten gibt das Verhalten seiner Gewerkschaft Rückhalt. Darauf aufbauend habe er sich auch vorstellen können, den Widerstand gegen den Putsch selbst anzuführen, allerdings habe ihn sein gesamtes Kabinett davon abgehalten.
Im Interview begründet er seine Flucht ins mexikanische Asyl damit, sein Leben habe gerettet werden müssen, um den Prozess des Wandels zu erhalten. Als das mexikanische Flugzeug am Militärflughafen in Chimoré ankam, hatte es nicht einmal eine Starterlaubnis von den putschenden Militärs der Luftwaffe (FAB). Schließlich war es Expräsident Jorge Quiroga, der der Armee den Befehl gab, Morales nach Mexiko fliegen zu lassen. Am 11. November 2019 ging es für den MAS-Politiker ins Exil.
In den Wochen nach dem Staatsstreich wurden Massendemonstrationen und Straßenblockaden im ganzen Land gegen den Putsch von Militärs unter Einsatz von Panzern, Helikoptern und Jets brutal niedergeschlagen. Traurige Höhepunkte stellten die Massaker von Sacaba am 14. November 2019 und vier Tage später in der Ortschaft Senkata dar, Dutzende zahlten mit ihrem Leben. In einer Art Burgfrieden sagten die Gewerkschaftsführer der Putschistenregierung zu, alle Blockaden aufzuheben, wenn im Gegenzug – wie von der Verfassung vorgesehen – innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisiert würden. Die aus rechten Hardlinern bestehende De-facto-Regierung schaffte es jedoch, unter dem Vorwand der Coronapandemie den Wahltermin immer weiter nach hinten zu verschieben. Erst vom Gewerkschaftsdachverband »Central Obrera Boliviana« und sozialen Bewegungen, darunter der zur MAS gehörende Zusammenschluss der Bauernverbände »Pacto de Unidad«, organisierte Demonstrationen, Straßenblockaden sowie ein Generalstreik im August 2020 zwangen die Putschisten, schließlich eine Abstimmung zuzulassen.
Bereits im Dezember 2019 war Morales beim ersten MAS-Kongress ohne ihn zum Wahlkampfleiter bestimmt worden. Im Januar 2020 folgte die Wahl des ehemaligen Wirtschaftsministers Luis Arce Catacora zum Präsidentschaftskandidaten der Bewegung zum Sozialismus. Die wegen der Coronapandemie ausgebrochene Wirtschaftskrise, deren Lasten die Putschregierung auf die Arbeiter und Armen abwälzte, verhalf Arce, der als Wirtschaftsminister unter Morales maßgeblich am Aufschwung in Bolivien beteiligt gewesen war, zu einem eindeutigen Sieg bei den Wahlen am 18. Oktober 2020. 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für den Kandidaten der MAS.
Morales lacht verschmitzt, als er sich während des Interviews an die klare Niederlage der Putschisten erinnert. Er und die Bewegung zum Sozialismus hatten sich nicht in Arce geirrt. Der von ihm eingeschlagene Weg wird in Bolivien fortgeführt. So konnte er – von großen Teilen der indigenen Bevölkerung und der Arbeiterklasse als Held gefeiert, von der weißen Oberschicht in den Städten indes gehasst – nach einem Jahr Exil in seine Heimat zurückkehren.