Was ist los in Kuba?
Telepolis, Heise online, 23. Juli 2021
Kubanische Verteidigung in Playa Girón 1961. Die US-Politik hat sich seither nicht wesentlich verändert. Bild: ICRT
Die jüngsten Proteste in Kuba sind ein Lehrbuchbeispiel für Anomie
Der französische Soziologe Emile Durkheim beschreibt die Anomie als den Zerfall zuvor akzeptierter Normen und Werte, der eine Periode drastischer und schneller Veränderungen in den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Strukturen der Gesellschaft charakterisiert.
Soziale Gruppen, die die Hauptlast solcher Dynamiken tragen, können sich von der Gesellschaft abgekoppelt fühlen, als ob sie nicht dazugehörten. Anomie kann zu Ziel- und Hoffnungslosigkeit führen und Devianz und Kriminalität fördern.
Die jüngsten anomischen Entwicklungen in Kuba sind Symptome eines schwierigen Übergangs zu einer neuen, immer noch sozialistischen Ordnung, die in die 1990er-Jahre zurückführt. In den letzten zweieinhalb Jahren, seit wir eine neue Regierung haben, wurde die Krise des Wandels bestimmt durch
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Nahrungsmittelknappheit;
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widersprüchliche wirtschaftliche Maßnahmen;
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steigende Lebenshaltungskosten;
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die jüngste und akute Zuspitzung der Pandemie sowie erneuten Restriktionen mit dem Ziel ihrer Bekämpfung;
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enorme Staatsausgaben für das Gesundheitswesen und deren Konsequenzen für andere soziale Dienstleistungen;
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Stromausfälle mitten im Sommer;
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den Rückgang des Tourismus, der die Beschäftigungs- und Einkommenslage verschärft.
Zu alledem kommt die kumulative Wirkung von Donald Trumps Verschärfung des US-Embargos gegen Kuba, nach einer relativen Lockerung unter der Präsidentschaft von Barack Obama.
Die meisten der friedlichen Demonstranten in den Straßen von San Antonio de los Baños, wo die Proteste 30 Kilometer südlich von Havanna begannen, brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Aber sie versuchten nicht, Kubas politisches System zu stürzen oder die Agenda von Dissidentengruppen zu unterstützen.
Tatsächlich kamen diese Proteste angesichts der Umstände nur langsam in Gang. Bisher war die kubanische Regierung stets in der Lage gewesen, die Krise zu managen und bis zu einem gewissen Grad den gesamtgesellschaftlichen Konsens aufrechtzuerhalten.
Es wurden aber auch Fehler gemacht. Sie hat etwa Stromausfälle geplant, ohne vorher die Reparaturen an den Kraftwerken zu erklären oder eine Frist für die Lösung des Problems zu nennen. Die jüngsten Stromausfälle mitten im brennend heißen kubanischen Sommer waren dann der Funken, der das Feuer entfacht hat.
Zweifellos waren oppositionelle Gruppen, die bislang nicht in der Lage gewesen sind, große Proteste zu organisieren, bereit, aus diesen Ausbrüchen spontanen Protests Kapital zu schlagen.
Sie schafften es, die Demonstrationen in gewalttätige Bahnen zu lenken und bei den Protesten einen regierungsfeindlichen Diskurs zu befördern. Dieses chaotische Ambiente begünstigte Akte des Vandalismus gegen Ladenlokale und sogar gegen die Polizei.
Präsident heißt nicht mehr Castro
Kubas neue Regierung, an deren Spitze ein Präsident steht, der nicht Castro heißt, hat Reformen vorgeschlagen, wie es sie seit 1960 nicht mehr gegeben hat. Es wurde eine neue Verfassung verabschiedet und es wurden Schritte in Richtung einer gemischten Wirtschaft mit Märkten und einem privaten Bereich unternommen.
Sie fördert die Dezentralisierung, die den lokalen Regierungen die Macht überträgt und den Provinzen mehr Autonomie gibt, um so die bislang vorherrschende massive Zentralisierung abzubauen.
Präsident Miguel Díaz-Canel wirbt auch für einen anderen Regierungsstil. Minister, die jünger als 60 Jahre sind, erklären im Fernsehen Probleme und beantworten Fragen. Die Kubaner können sie benennen, ihnen zuhören, sie beurteilen, sie loben oder offen verspotten.
Seit den Anfängen der Regierung von Raúl Castro (2008-2018) ist der Internetzugang für alle Bürger zu relativ erschwinglichen Preisen ausgeweitet wurden. Anders als etwa in China kann sich jedes der sechs Millionen internetfähigen Mobiltelefone mit Google oder Facebook verbinden.
Eine solche Zeit hat es noch nicht gegeben, was die Freiheit betrifft, die Regierung über soziale Medien und sogar in den öffentlichen Medien zu kritisieren oder auf Informationen aus einer Vielzahl von Quellen zuzugreifen, einschließlich jener der Opposition. Und auch keine größere Reisefreiheit.
Die Gründung neuer politischer Parteien bleibt zwar verfassungswidrig, aber es gibt kein absolutes Verbot für nicht-staatliche Medien. Artikel 56 der Verfassung garantiert die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf öffentliche Demonstrationen.
Warum macht die kubanische Regierung das US-Embargo für Proteste verantwortlich, die scheinbar lokal begründet sind?
Als Barack Obama im März 2016 Kuba besuchte, hatte er erklärt, die US-Politik gegenüber Kuba sei ineffektiv; und dass es ihm nicht darum gehe, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Er traf sich jedoch mit einigen Dissidenten, und zwar in der US-Botschaft selbst.
Einer von ihnen, so erfuhr ich, warf Obama vor, keine Ahnung von Kuba zu haben. Der Präsident fragte ihn: „Wie viele Unterstützer haben Sie? In wessen Namen sprechen Sie?“ Diese Anekdote spiegelt, auf den Punkt gebracht, den paradoxen Zustand der kubanischen Opposition über die Jahre wider.
Kubanische Oppositionsgruppen haben immer die Rolle eines Waisenkindes auf der Suche nach Adoptiveltern eingenommen. Ihr bevorzugtes Selbstbild ist das von armen, hilflosen Kreaturen, die einem mächtigen Leviathan (dem kubanischen Regime) gegenüberstehen, der sie unterdrücken wird, bis, gleich der griechischen Tragödie, ein Gott ex machina sie vor Vergessen, Elend und Dunkelheit rettet.
Wer spricht für Kubas Zivilgesellschaft?
Diese Oppositionsgruppen geben vor, die Stimme der Zivilgesellschaft zu sein, aber sie repräsentieren kein bestimmtes gesellschaftliches Segment. Vielmehr sind sie Kleinstparteien, die kaum in der Lage sind, Allianzen zu bilden. Das ist eine weitere Facette ihres paradoxen Status als Opposition seit den 1960er-Jahren.
Diese „verwaiste Opposition“ wurde von einigen politischen Sponsoren im US-Kongress übernommen, was ihre Legitimität unter den Kubanern weiter geschwächt hat. Sie haben es dabei auch geschafft, das Mitgefühl normaler Bürger in Kuba und im Ausland zu wecken, die aus humanitären Gründen Mitleid mit ihrer Situation haben.
Der Umgang kubanischer Politiker mit dieser politisch heterogenen Opposition ist niemals besonders effektiv gewesen. Es ist ihnen auch nicht gelungen, diejenigen zu gewinnen, die diese Gruppen aus humanitären Gründen unterstützen. Vielmehr war der politische Umgang, wie wir jetzt sehen, kontraproduktiv, weil er diese Opposition größer aussehen lässt, als sie ist, weil er sie eine Opferrolle wahrnehmen lässt, die ihr nicht zukommt.
Wenn diese Gruppen und ihre Verbündeten im Ausland Druck auf die kubanische Regierung fordern, versuchen sie offensichtlich, sie zu zwingen, eine liberale politische und wirtschaftliche Agenda anzunehmen. Aber wir alle wissen, dass die kubanische Regierung nicht vorgibt, liberal zu sein und es auch nicht ist.
Dieser politische Druck ist zu oft gescheitert, um zu glauben, dass diejenigen, die ihn weiterhin ausüben, sich seiner kontraproduktiven Wirkung nicht bewusst sind. Wenn also diese Dissidenten und ihre Verbündeten nicht in der Lage sind, das Regime zu destabilisieren, was ist dann ihr eigentliches Ziel?
Offensichtlich geht es darum, den Weg zur Renormalisierung zu untergraben, sowohl in den USA als auch in Kuba. Denn solcher Druck von außen führt zu verhärteten Positionen bei den Gruppen, die sich auf beiden Seiten gegen den Austausch stellen. Und weil endlose Konflikte ein profitables Geschäft für Hardliner sind, in Washington und Havanna, besonders aber in Miami.
Zwei Monate bevor Joseph Biden sein Amt antrat, machte eine kleine Gruppe dissidenter Künstler Schlagzeilen in den Medien der kubanischen Opposition. Sie behaupteten, die Zensur zu bekämpfen und die Afrokubaner in San Isidro, einem Armenviertel in Alt-Havanna, zu vertreten.
Biden wurde auf Trump-Kurs gebracht
Diese Gruppe von politisch aktivistischen Künstlern, oder „Artivisten“, wie sie sich selbst nennen, arbeitete trotz allem weiter, ebenso wie die 19 regierungsfeindlichen digitalen Medien. Natürlich wurden sie von der Staatssicherheit und der Polizei verhört und stunden- oder tagelang festgehalten, weil sie gegen das Dekret 360 verstoßen hatten, das sie für illegal erklärt. Die meisten von ihnen wurden jedoch nicht vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt, wie es in China und Vietnam der Fall gewesen wäre.
In Bezug auf die Kommunistische Partei und die kubanische Regierung liegt die wahrgenommene Bedrohung durch diese Gruppen und die oppositionellen Medien nicht in ihrer tatsächlichen Fähigkeit, die politische Macht herauszufordern, sondern in ihrem Anspruch, die Rolle von „Bidens kubanischer Zivilgesellschaft in einem freien Kuba“ zu spielen.
In der Tat zielen diese Gruppen auf die Verlängerung des Trumpismus ab. Sie nehmen die bilateralen Beziehungen als Geisel, um die Normalisierung zu untergraben.
Die jüngsten Szenarien einer „humanitären Intervention in Kuba“, die von Politikern aus Florida und Mitgliedern des Kongresses in Umlauf gebracht wurden, erweitern den bestehenden politischen Disput um den nationalen Sicherheitsfaktor.
Unter dem akkumulierten Druck von interner Krise und externen Forderungen gestaltet sich die Aufgabe schwierig, eine ausgewogene, maßvolle und moderate Regierungsführung aufrechtzuerhalten.
Im Vergleich zu anderen Ländern in ähnlichen Situationen haben die kubanische Regierung und ihre Unterstützer auf die jüngste Protestwelle und ihre Gewalt mit minimaler Gewalt geantwortet.
Die bewährte Fähigkeit der Opposition, digitale Netzwerke zu nutzen, ermöglichte es ihr jedoch, bei ihrem eigentlichen Ziel zu punkten: Sie erreichten eine Verlängerung der von Trump verhängten Sanktionen unter Biden, einschließlich der privaten Geldüberweisungen auf die Insel, unter Biden zu erwirken. Sie erreichten auch, dass Biden die Proteste als „klaren Ruf nach Freiheit“ bezeichnet und neue Personensanktionen verhängt.
Wenn Washington wirklich die Sorge um Freiheit und Menschenrechte antreibt, sollte die Biden-Regierung die kubanische Regierung einbinden. Sich an die Illusion einer trump-ähnlichen Politik zu klammern, die den Wandel von außen erzwingen oder einen handlungsfähigen Akteur unter der zersplitterten und widersprüchlichen Opposition der Insel zu finden, wird wenig produktiv sein, wenn man eine Politik der Reformen in Kuba unterstützen will.
Rafael Hernández ist Chefredakteur der kubanischen soziologischen Fachzeitschrift Temas. Er lebt und arbeitet in Havanna.