Neue Bühnen des Widerstands
Trotz Ausgangssperren und Militarisierung: Proteste in Lateinamerika. Situation in Kolumbien exemplarisch
Von Frederic Schnatterer
Bis vor wenigen Wochen war Lateinamerika noch vor allem wegen seiner anhaltenden Protestbewegungen in der Presse. Dem setzten die Maßnahmen der einzelnen Regierungen zur Eindämmung der Coronapandemie ein jähes Ende. Nach und nach wurden in einem Großteil der Staaten Ausgangssperren ausgerufen, öffentliche Versammlungen verboten und teilweise das Militär auf die Straßen geschickt.
So in Chile. Präsident Sebastián Piñera verhängte Mitte März für 90 Tage den Ausnahmezustand und verschob das für Ende April geplante Referendum über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dafür sowie gegen seine Regierung hatten seit Mitte Oktober praktisch wöchentlich Tausende demonstriert. So wie in den ersten Tagen nach Beginn der Proteste im Oktober, patrouillieren auch heute wieder Soldaten auf den Straßen. Piñera, der noch im Januar Zustimmungswerte von gerade einmal sechs Prozent hatte, sitzt mittlerweile wieder etwas fester im Sattel. Laut der Zeitung Diario las Ámericas sind 18 Prozent der Befragten mit seiner Amtsführung zufrieden.
Auch in Kolumbien, wo im November des vergangenen Jahres eine nationale Protestbewegung begonnen hatte, sind die Großdemonstrationen und landesweiten Streiks im Zuge der Coronakrise zum Erliegen gekommen. Die Regierung von Iván Duque ordnete am 24. März eine strikte Ausgangssperre an und schickte Militärs auf die Straßen. Ausgangsbeschränkungen und das Verbot öffentlicher Versammlungen treffen nicht alle Menschen gleich. Personen, die sogenannten informellen Tätigkeiten nachgehen, verlieren durch sie praktisch jede Möglichkeit, das eigene Überleben zu sichern.
Deshalb haben sich die Bühnen des Widerstands verlagert. Seit Beginn der Coronakrise kommt es in dem Land zu – größtenteils spontanen – Protesten besonders benachteiligter Gruppen. So versammelten sich am 31. März trotz Ausgehverbots Hunderte Straßenverkäufer, Sexarbeiter und Bauarbeiter in der Hauptstadt Bogotá und forderten die von der Regierung versprochenen Finanzhilfen und Essenspakete während der Zeit der Coronakrise ein. Bereits unmittelbar vor Inkrafttreten der landesweiten Ausgangssperre war es in mehreren Städten zu spontanen Protestaktionen sowie Plünderungen gekommen.
Die Situation in Kolumbien ist beispielhaft für Lateinamerika. In dem Land gehen laut Weltbank nur sieben der 22 Millionen arbeitsfähigen Menschen einem formalen Arbeitsverhältnis nach. Laut der Statistikabteilung DANE leben 62 Prozent hingegen von informellen Tätigkeiten, auf dem Land sind es sogar 84 Prozent der Erwerbstätigen. Mindestens 14 Prozent können durch die Ausgangssperren mit wenig bis gar keinen Einkünften rechnen können.
Die Möglichkeit, sich ausreichend zu schützen, haben auch die Tausenden Inhaftierten in den Gefängnissen Lateinamerikas nicht, weshalb diese seit dem Beginn der Coronakrise vermehrt zu Orten des Widerstands geworden sind. In fast allen Ländern kam es in den vergangenen Wochen zu Protesten und Aufständen von Häftlingen angesichts fehlender Gesundheitsvorkehrungen in Haft. Auch für den heutigen Dienstag sind in mehreren Haftanstalten Kolumbiens wieder Proteste angekündigt.