Lateinamerika will keine Schachfigur ohne freien Willen sein
Antonio Pigafetta, ein florentinischer Seefahrer, der Magellan bei seiner ersten Reise um die Welt begleitete, schrieb auf seinem Weg durch unser südliches Amerika konsequent eine Chronik, die jedoch ein Abenteuer der Fantasie scheint.Er erzählte, er habe Schweine mit dem Nabel auf dem Rücken gesehen und einige Vögel ohne Füße, deren Weibchen auf den Schultern des Männchens brüten und andere wie Basstölpel ohne Zunge, deren Schnäbel wie Löffel aussahen. Er erzählte von einer Art Tier mit Kopf und Ohren eines Maultiers, Körper eines Kamels, Beinen eines Hirsches und dem Wiehern eines Pferdes. Er erzählte, dass sie den ersten Einheimischen, den sie in Patagonien trafen, vor einen Spiegel gestellt hätten und dass jener hitzige Riese aus Angst vor seinem eigenen Bild, den Verstand verloren habe.
Diese kurze und faszinierende Buch, in dem sich die Keime unserer heutigen Romane erahnen lassen, ist jedoch nicht das erstaunlichste Zeugnis unserer damaligen Realität. Die „Cronistas de Indias“ hinterließen uns weitere unzählige. Eldorado, unser illusorisches so begehrtes Land taucht in all diesen Jahren auf Landkarten auf und verändert je nach der Fantasie der Kartographen seinen Ort und seine Form.(…) Die Unabhängigkeit von spanischer Herrschaft hat uns nicht vor Wahnsinn geschützt (…)
In das gute Gewissen Europas und manchmal auch in das schlechte sind seitdem heftiger als zuvor phantastische Nachrichten aus Lateinamerika eingebrochen, diesem immensen Vaterland der halluzinierten Männer und historischen Frauen, deren unendliche Starrköpfigkeit sich mit der Legende vermischt. Wir hatten keinen Augenblick der Ruhe. Ein prometheischer Präsident starb verschanzt in seinem brennenden Palast allein gegen eine ganze Armee kämpfend und zwei verdächtige Flugzeugunglücke, die nie aufgeklärt wurden, beendeten das Leben eines anderen großmütigen Herzens und das eines demokratischen Militärs, der die Würde seines Volkes wiederhergestellt hatte. In diesem Zeitraum gab es fünf Kriege und 17 Staatsstreiche und es erhob sich ein luziferischer Diktator, der im Namen Gottes den ersten Ethnozid im Lateinamerika unserer Zeit durchführte.Währenddessen starben 20 Millionen lateinamerikanische Kinder, bevor sie zwei Jahre alt waren; das sind mehr als in Westeuropa seit 1970 geboren wurden. Die aus Gründen der Repression Verschwundenen, das sind fast 120.000. Das ist so, als ob man heute nicht wüsste, wo die gesamten Einwohner der Stadt Upsala geblieben sind. Zahlreiche schwangere Frauen gebaren ihr Kind in argentinischen Gefängnissen, aber man kennt heute noch nicht den Aufenthaltsort und die Identität ihrer Söhne und Töchter, die heimlich von den Militärbehörden zur Adoption gegeben oder in Waisenhäuser gebracht wurden. Weil sie nicht wollten, dass die Dinge wie bisher weitergehen, sind auf dem ganzen Kontinent fast 200.000 Frauen und Männer gestorben und mehr als 100.000 kamen in drei kleinen und willensstarken Ländern Mittelamerikas, Nicaragua, El Salvador und Guatemala ums Leben.Wenn man diese Zahl auf die Vereinigten Staaten übertragen würde, bedeutete dies, dass innerhalb von vier Jahren 1.600.000 Menschen umgebracht worden wären.
Aus Chile, einem Land mit gastfreundlicher Tradition, sind eine Million Menschen geflohen: 10 % seiner Bevölkerung. Uruguay eine winzige Nation von zweieinhalb Millionen Einwohnern, die sich als die zivilisiertesten des Kontinents ansahen, hat einen von fünf Bürgern durch das Exil verloren. Im Bürgerkrieg in El Salvador gab es seit 1979 alle 20 Minuten einen Flüchtling.Das Land, das man mit allen Exilierten, den zwangsweise in die Emigration getrieben Lateinamerikas bevölkern könnte, hätte mehr Einwohner als Norwegen.
(…) Dichter und Bettler, Musiker und Propheten, Krieger und Missetäter, alle Kreaturen jener gewalttätigen Realität, wir mussten sehr wenig von der Vorstellungskraft erbitten, denn die größte Herausforderung war der Mangel an herkömmlichen Mitteln, um unser Leben glaubhaft zu machen. Das, Freunde, ist der Knoten unserer Einsamkeit.
Wenn uns nun diese Schwierigkeiten, die zu unserem Wesen gehören behindern, ist es nicht schwer zu verstehen, dass die vernünftigen Talente von dieser Seite der Welt, die von der Betrachtung ihrer eigenen Kulturen verzaubert sind, keine gültige Methode gefunden haben, uns zu interpretieren. Es ist nicht zu verstehen, dass sie darauf bestehen, uns mit demselben Maß zu messen, das sie an sich anlegen, ohne daran zu denken, dass die Verwüstungen des Lebens nicht für jeden gleich sind und dass die Suche nach unserer eigenen Identität so mühselig und blutig für uns ist, wie es dies für sie war. Die Deutung unserer Realität mit fremdartigen Schemen hat nur zur Folge, dass wir uns immer unbekannter werden, immer weniger frei und immer mehr allein fühlen. Vielleicht wäre das ehrwürdige Europa verständnisvoller, wenn es versuchen würde, uns in seiner eigenen Vergangenheit zu sehen (…).
Ich habe nicht vor, die Vorstellungen von Tonio Kröger zu verkörpern, dessen Träume von der Vereinigung eines keuschen Nordens und eines leidenschaftlichen Südens Thomas Mann vor 53 Jahren an diesem Ort verherrlichte. Aber ich glaube, dass die Europäer mit einem klärenden Geist, diejenigen, die auch für ein menschlicheres und gerechteres Land kämpfen, uns besser helfen könnten, wenn sie von Grund auf ihre Art und Weise überprüfen, wie sie uns sehen. Die Solidarität mit unseren Träumen, führt nicht dazu, dass wir uns weniger allein fühlen, solange sie sich nicht in der legitimen Unterstützung derer konkret zeigt, die den Traum haben, in dem Teil der Welt ein eigenes Leben zu haben.
Lateinamerika möchte nicht und muss auch nicht eine willenlose Schachfigur sein; es hat auch nichts Schimärisches an sich, das seine Entwürfe von Unabhängigkeit und Authentizität zu einem westlichen Anspruch werden lassen müsste.
Obwohl die Fortschritte beim Navigieren die Entfernungen zwischen unseren Amerikas und Europa stark verringert haben, scheint demgegenüber unsere kulturelle Entfernung größer geworden zu sein. Warum verweigert man uns die Authentizität, die man an uns vorbehaltlos in der Literatur gestattet voller Argwohn bei unseren so schwierigen Versuchen des sozialen Wandels? Warum denkt man, dass die soziale Gerechtigkeit, die die fortgeschrittenen Länder Europas ihren Ländern geben, nicht auch ein Ziel für Lateinamerika sein könnte, mit unterschiedlichen Methoden unter anderen Bedingungen? Nein: die Gewalt und der maßlose Schmerz unserer Geschichte sind das Ergebnis zahlloser weltlicher Ungerechtigkeiten und Bitternis und nicht einer von einer 3000 Meilen von unserem Haus entfernten Verschwörung. Aber viele europäische Führer und Denker haben geglaubt, dass der Infantilismus der Großeltern, die die fruchtbare Verrücktheit ihrer Jugend vergessen haben, und jetzt glauben, dass kein anderes Schicksal mehr möglich wäre, als von der Gnade der zwei großen Mächte der Welt zu leben. Das, Freunde, macht die Größe unserer Einsamkeit aus.
Trotz allem im Angesicht der Unterdrückung, der Plünderung und der Verlassenheit ist unsere Antwort das Leben. Weder Sinflut noch Pest, weder Hungersnöte noch Erdbeben, nicht einmal die über die Jahrhunderte andauernden Kriege haben unseren zähen Lebenswillen über den Tod verringern können. Ein Vorteil, der anwächst und sich beschleunigt: Jedes Jahr werden 74 Millionen mehr Menschen geboren als sterben, eine Menge von neuen Lebenden, die jedes Jahr die Bevölkerung von New York um das Siebenfache übersteigt. Die Mehrzahl von ihnen wird in Ländern mit wenigen Ressourcen geboren und dazu gehören auch die Lateinamerikas. Im Gegensatz dazu haben die wohlhabenden Länder es erreicht genügend Zerstörungspotential anzuhäufen, um hundert Mal nicht nur alle Lebewesen zu vernichten, die heute leben sondern alle, die jemals über diesen unglückseligen Planeten geschritten sind.
An einem Tag wie heute hat mein Lehrer William Faulkner von dieser Stelle aus gesagt: „Ich weigere mich, das Ende des Menschen zuzulassen“. Ich würde mich nicht würdig fühlen diesen Platz einzunehmen, der der seine war, wenn ich mir nicht völlig bewusst darüber wäre, dass zum ersten Mal seit Beginn der Anfänge der Menschheit, die kolossale Katastrophe, die er vor 32 Jahren nicht zulassen wollte, heute nichts weiter als eine einfache wissenschaftliche Möglichkeit ist. Angesichts dieser erschütternden Wirklichkeit, die im Laufe der Zeit, in der der Mensch gelebt hat, eine Utopie zu sein schien, spüren wir, dass wir das Recht haben, dass es noch nicht zu spät ist eine andere entgegengesetzte Utopie zu schaffen. Eine neue und glühende Utopie des Lebens, in der keiner über den anderen bestimmen kann, selbst nicht, was die Art zu sterben angeht, wo wirklich die Liebe existiert und das Glück möglich ist und wo die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilten Geschlechter endlich und für immer auf der Erde eine zweite Chance haben.
(Ausschnitte aus der Rede zur Entgegennahme des Nobelpreises, 1982)
http://de.granma.cu/mundo/2019-05-22/lateinamerika-will-keine-schachfigur-ohne-freien-willen-sein