»Das ist der Rückfall in eine koloniale Praxis«
Venezuela: Fragen des Völkerrechts spielen offenbar geringe Rolle, obwohl Verstöße offensichtlich sind. Ein Gespräch mit Norman Paech
Interview: Jan Greve
Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht und war von 2005 bis 2009 Bundestagsabgeordneter für Die Linke
Seit Tagen beherrscht die Lage in Venezuela die Schlagzeilen. Mit welchen Gedanken schlagen Sie morgens die Zeitung auf?
Seit Jahren ist Venezuela immer irgendwo im Fokus der Berichterstattung, wenn es darum geht, über die ökonomische Misere dort oder die Schwierigkeiten der Regierung zu sprechen. Insofern haben wir es jetzt nur mit einem Kulminationspunkt einer Entwicklung zu tun, der voraussehbar war.
Zunächst waren auch in bürgerlichen Medien Vokabeln wie »Staatsstreich« zu vernehmen, als sich Juan Guaidó am 23. Januar selbst zum »Übergangspräsidenten« erklärte. Davon ist mittlerweile weniger zu hören.
Ursprünglich war man auf dem richtigen Pfad. Wir haben es hier mit einem vollkommen unzulässigen und rechtswidrigen Putsch zu tun, auch nach der venezolanischen Verfassung. Damals kannte man Guaidó wohl nicht und wusste nur wenig über die Hintergründe: Es geht um einen seit langer Zeit geplanten »Regime change«, der in den USA und in interessierten Kreisen verfolgt wird. Jetzt, wo ein eventueller Erfolg in Sicht ist, hat man sich wieder auf die Schleimspur der US-Regierung begeben. Man spricht nicht mehr darüber, was doch eigentlich in den westlichen Wertvorstellungen eine große Rolle spielen sollte: das Völkerrecht und die Souveränität von Staaten.
Diese Woche haben mehrere Staaten, darunter die BRD, nachgezogen und Guaidó als legitimen Interimspräsidenten anerkannt. Andere tun das nicht. Was hat es mit der Praxis der Anerkennung auf sich?
In der Diplomatie und im Völkerrecht hat jede Regierung das Recht, eine andere anzuerkennen oder auch nicht. In Venezuela ist es aber anders: Hier wird sich nicht darauf beschränkt, der Regierung von Präsident Nicolás Maduro die Anerkennung zu verweigern, sondern hier geht es klar darum, diese zu ersetzen. Das ist die Unterstützung eines Umsturzes und nach allen Regeln der UN-Charta ein unerlaubter Eingriff in die Souveränität eines Staates.
Wenn dem so ist, wo bleibt der Aufschrei derjenigen, die sonst das Völkerrecht hochhalten?
Ich wundere mich darüber, dass in der deutschen Presse nur sehr wenig Kritik an dem Vorgehen, dem sich nun auch die Bundesregierung angeschlossen hat, zu hören ist. Denken Sie nur daran, was im Fall der Krim zu vernehmen war. Oder denken Sie daran, was derzeit als Satire durchs Internet geistert: Russlands Präsident Wladimir Putin würde eine selbsternannte Präsidentin Marine Le Pen in Frankreich anerkennen, vor dem Hintergrund der Proteste der »Gelbwesten« und des Ausnahmezustandes, den die französische Regierung unter Emmanuel Macron durch die großen Polizeieinsätze zu verantworten hat. Die Reaktion auf ein solches Szenario wäre sicher eine völlig andere als bei Venezuela. Man würde sich schnell an das Völkerrecht erinnern.
Begründet wurde die Anerkennung Guaidós damit, Maduro habe ein Ultimatum zur Ausrufung neuer Präsidentschaftswahlen verstreichen lassen.
Das ist der Rückfall in eine koloniale und imperiale Praxis: Regierungen werden dazu aufgefordert, sich zu unterwerfen, wodurch sie letztlich in den Vasallenstatus zurückkehren. Man muss sagen, dass wir es hier mit einer absoluten diplomatischen Frechheit zu tun haben. Es war realistischerweise nicht zu erwarten, dass Maduro diesem Ultimatum folgt. Das wäre einer totalen Aufgabe gleichgekommen.
Mit Blick auf die Parallelen zu anderen Fällen: Ist Kolonialismus der treffende Ausdruck, wenn es um die Beschreibung der Kontinuität dieser Politik geht?
Soweit würde ich nicht gehen. In der Vergangenheit hatte man sich doch immer wieder an das Völkerrecht gehalten, wenn es auch Ausnahmen gegeben hat. Die politisch-ökonomische Unterwanderung von Staaten wurde oft im Hintergrund gehalten. Das ist im jetzigen Fall völlig anders, wo offen und dreist seitens der USA mit militärischen Maßnahmen gedroht wird. Das ist reine Kanonenbootpolitik.
Wozu braucht es das Völkerrecht überhaupt noch, wenn es eh keine konsequente Anwendung findet?
Unsere Straftatbestände von Betrug bis Mord werden tagtäglich verletzt – hier stellt niemand die Frage, ob man sich von dem Recht verabschieden soll. Meine Antwort ist klar: Dieses Völkerrecht wird gebraucht. Man muss es immer wieder herstellen.