»Sozialismus ist für viele zur Floskel verkommen«
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Interview mit der Leiterin des staatlichen Instituts für Philosophie Georgina Alfonso
Ich würde behaupten, dass die Wirtschaftskrise kein rein kubanisches Problem ist. Das kapitalistische Entwicklungsmodell stellt das Leben infrage – das sehen wir in Lateinamerika und weltweit. Kuba hat versucht, eine soziale und humanistische Alternative zu entwickeln und damit die Vorherrschaft der USA herausgefordert. Seit 1961 versucht man deshalb, uns zu zerstören. Das sollte man sich vergegenwärtigen: Jede Alternative zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung wäre mit so einer Antwort konfrontiert gewesen.
Kuba hat nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers ums Überleben gekämpft. 2011 haben wir das ökonomische Modell aktualisiert. Die Debatte über die Reformen wurde mit großer gesellschaftlicher Beteiligung geführt, und es gab einen breiten Konsens. 2016 jedoch waren erst 20 Prozent der Forderungen umgesetzt. Das hat für enorme Enttäuschung gesorgt, vor allem unter den Jüngeren. Mit der Pandemie dann ist die Wirtschaft völlig eingebrochen.
Wir haben zwei Generationen, die schlechter leben als ihre Eltern. Vor diesem Hintergrund ist es sehr schwierig, ein glaubwürdiges, gesellschaftliches Projekt zu formulieren. Die Folge davon ist, dass immer weniger Menschen Verantwortung übernehmen. Die Leute erscheinen nicht zur Arbeit, machen illegale Geschäfte, lassen Güter aus dem Betrieb mitgehen. Auf die Weise wird diese Produktion immer ineffizienter, die Versorgungslage immer schlechter.
Georgina Alfonso González, Jahrgang 1966, ist Direktorin des Instituts für Philosophie, das zum kubanischen Forschungsministerium gehört. Unter ihrer Leitung widmet sich das Institut der politischen Bildungsarbeit in Stadtteilen und ist zu einer wichtigen Schnittstelle für feministische, postkoloniale und kritisch-marxistische Debatten geworden. Zudem spielte das Institut bei den politischen Reformen der vergangenen Jahre, etwa bei der Verfassungsdebatte und dem Gesetz zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, eine wichtige Rolle. Alfonso ist Basismitglied der Kommunistischen Partei Kubas (PCC).
Viele Kubaner*innen sagen, die politischen Strukturen seien verknöchert und müssten sich verändern. Aber lässt sich das sozialistische System überhaupt von innen erneuern? Und welche Rolle spielt feministische Politik dabei?
Im letzten Jahrzehnt hat die sogenannte »historische Generation« die politische Führung an Jüngere abgegeben. 2019 ist – ebenfalls nach einer breiten gesellschaftlichen Debatte – eine neue Verfassung verabschiedet worden, die sehr viel mehr Möglichkeiten zur Gestaltung von Rechten bietet. Und 2022 haben wir ein Familiengesetz verabschiedet, das als eines der progressivsten Familien- und Reproduktionsgesetze der Welt gilt. Dabei haben wir den Widerstand der konservativen Teile der kubanischen Gesellschaft überwinden müssen – und damit ist nicht der Staat gemeint.
Die kubanischen Institutionen lassen sich also offensichtlich verändern. Und das neue Familiengesetz beweist auch, dass es bei uns eine feministische Bewegung gibt. Die Forderung nach der völligen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wurde zunächst außerhalb der Institutionen formuliert.
Sie haben in einem Vortrag erwähnt, dass Sie nicht mehr von Sozialismus sprechen, weil der Begriff vor allem für jüngere Kubaner*innen zur leeren Floskel verkommen sei. Stattdessen verwenden Sie den Begriff Emanzipation.
José Martí hat einmal gesagt, Einheit entstehe, wenn man gemeinsame Ziele formuliere. Der Begriff des Sozialismus eint nicht mehr. Die Erfahrung vieler Jüngerer ist von Verzweiflung und verlorener Glaubwürdigkeit geprägt. Wenn wir hingegen von gemeinsamer Veränderung sprechen, dann verstehen sie sehr wohl, was gemeint ist. Wir Menschen suchen das Glück. Der antikapitalistische Kampf beruht auf dieser Suche, und dieses Kriterium ist viel wichtiger als der Begriff selbst. Voraussetzung dieses Glücks ist, dass wir diese Welt verändern, die uns in den kollektiven Selbstmord treibt.
Der entscheidende Moment der marxistischen Tradition ist für mich das Konzept der Emanzipation. Der kritische Marxismus geht von einem Subjekt aus, das sich befreien kann. Die daran anschließenden Fragen wären: Emanzipation wovon? Durch wen? Wofür? Der Sozialismus war ein abgeschlossenes Projekt. Es war festgelegt, worin die gesellschaftlichen Widersprüche und die Ziele bestehen. Aber die These ist in sich zusammengebrochen. Deshalb brauchen wir einen neuen Ausgangspunkt. Die Menschen müssen spüren, dass sie ihre Zukunft selbst erschaffen können und dass diese Zukunft heute beginnt. Bei unseren Workshops reden wir deshalb viel über Emanzipationskämpfe. Die großen Kämpfe der Vergangenheit wurden ja nicht für ein klar umrissenes Modell geführt, sondern richteten sich gegen erlittene Unterdrückung. Kleine Erfahrungen führen zu großen Veränderungen, kleine Veränderungen zu großen Erfahrungen.
Der Theorie nach sollte im Sozialismus das Patriarchat gleich mit abgeschafft werden. Das war offenbar nicht der Fall. War die kubanische Revolution zu wenig feministisch?
Das würde ich nicht unbedingt unterschreiben. Die Revolution auf Kuba war eine Revolution von Frauen und Jugendlichen. Es gab unzählige Frauengruppen, die sich zur Federación de Mujeres zusammenschlossen. Diese Organisation bezeichnete sich zwar nicht als feministisch, aber strebte nach umfassender Emanzipation und hat auch Konflikte mit dem kubanischen Staat ausgetragen. Außerdem unterhielt sie enge Verbindungen zu den internationalen feministischen Bewegungen. Die wichtigsten Feministinnen ihrer Zeit, zum Beispiel Angela Davis, waren damals auf Kuba.
Bei uns wurden Veränderungen durchgesetzt, für die die feministische Bewegung andernorts heute noch kämpft – Sexual- und Reproduktionsgesundheit, Bildung, die gesellschaftliche Übernahme von Arbeiten, die Frauen ansonsten zu Hause erledigen. Das alles wurde in Kuba vom Staat als Regierungspolitik umgesetzt. Die kubanische Revolution hatte also durchaus einen antipatriarchalen und feministischen Charakter.