An der Seite Palästinas
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Von Raina Zimmering Raina Zimmering ist Historikerin und Politologin, die vielfach zu lateinamerikanischen Themen publiziert hat.Demonstration gegen den Krieg in Gaza vor dem chilenischen Präsidentenpalast (Santiago de Chile, 15.10.2023)
Am 7. Januar 2024 stellten sich zahlreiche lateinamerikanische Staaten erneut gegen den Westen, als sie die südafrikanische Klage gegen Israel wegen Völkermords beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag unterstützten. Die westlichen Länder stehen indes an der Seite Israels und lehnen die Klage ab. Warum vertreten die Länder Lateinamerikas in den großen Konflikten und Kriegen der Gegenwart andere Positionen als die westlichen Staaten, insbesondere die USA und die EU? Warum spielt der Gazakrieg in Lateinamerika überhaupt so eine große Rolle?
Beziehungen zum Nahe Osten
Die Länder südlich der USA blicken auf eine lange Geschichte von Interventionen und Ausbeutung ihrer Ressourcen durch die Vereinigten Staaten zurück. Das US-amerikanische hemisphärische Verständnis von Lateinamerika als eigenem Hinterhof entstand schon 1823 mit der Monroe-Doktrin im Sinne von »Amerika den Amerikanern«. Seit deren Verkündigung durch Präsident James Monroe intervenierten die USA Hunderte Male gewaltsam oder unterstützten aktiv rechte Militärdiktaturen, die Tausende Oppositionelle folterten, töteten oder »verschwinden« ließen. Erst seit Mitte der 1990er Jahre konnte sich der Kontinent durch zwei »rosa Wellen« von Mitte-links-Regierungen, die Diversifizierung seiner Außenbeziehungen, einer Politik des »Active Non-Alignment« und stärkere Süd-Süd-Beziehungen teilweise aus der westlichen Umklammerung befreien und zu einem globalen Akteur bei der Durchsetzung von Multipolarität und Frieden in der Welt werden.
Auch der Nahe Osten war und ist unter anderem mit Hilfe Israels Einflussgebiet der USA, wo der Zugang zu den reichen Erdölreserven gesichert, eine vom Westen unabhängige oder »nichtkapitalistische Entwicklung« verhindert und eine Gegenmacht früher zur Sowjetunion bzw. heute zu Russland aufgebaut werden sollte und soll. Damit zeigen sich trotz aller Unterschiede ähnliche systemische und geopolitische Konstellationen wie in Lateinamerika. Man kann daher durchaus von einer Art Schicksalsgemeinschaft sprechen.
In den 1960er bis 2000er Jahren gab es im Rahmen der nationalen Befreiungsbewegungen und mit dem »arabischen Frühling« zwischen beiden Regionen viele Ähnlichkeiten, die in einen transnationalen Antiimperialismus mündeten. Für soziale Bewegungen, linke Parteien und Regierungen in Lateinamerika war das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes immer eine starke Referenz. Andersherum war Lateinamerika ein bevorzugtes Ziel für palästinensische Flüchtlinge. In Chile leben mit einer halben Million besonders viele Palästinenserinnen und Palästinenser. Aber auch in Argentinien, Mexiko, Brasilien und Kolumbien gibt es große Communitys, die sich in die Gesellschaften der Aufnahmeländer und deren arabischstämmige Gemeinden integriert, aber immer auch eine eigene Identität mit der Option der Rückkehr und Fortführung des eigenen Kampfes über Generationen hinweg beibehalten haben.
Ausschlaggebend für die lateinamerikanische Wahrnehmung Israels als Stellvertreter der USA war die Unterstützung Israels für Militärdiktaturen in Mittel- und Südamerika. Als ab den 1970er Jahre im US-Kongress Waffenlieferungen der USA an lateinamerikanische Diktaturen verhindert wurden, sprang Israel ein und lieferte militärisches Gerät. So äußerte der Chef des Generalstabs der guatemaltekischen Armee unter der Diktatur von Ríos Montt: »Israel ist unser wichtigster Waffenlieferant und Guatemalas größter Freund in der Welt.«¹ Israel übergab an einige Staaten Lateinamerikas auch Überwachungs- und Ausspähtechnik und beriet Diktatoren bei der Unterdrückung der widerständigen Bevölkerung, insbesondere der Indigenen. Israelische Datenbanken erfassten zum Beispiel 80 Prozent der Bevölkerung in Guatemala. Der Journalist Dan Rather schrieb, dass die Israelis dazu rieten, »die Ureinwohner so zu behandeln, wie wir die Palästinenser behandeln: Vertraue keinem von ihnen«.² Israel schickte auch Waffen in größerem Umfang an rechte, mit den Drogenkartellen verquickten Regierungen in Kolumbien, zum Beispiel unter Álvaro Uribe (2002/2010). 2021 lieferte Israel für zehn Millionen US-Dollar Waffen nach Kolumbien, was allein neun Prozent der israelischen Waffenexporte ausmachte.³
Protestbewegungen
Als Israel nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit der Invasion in Gaza begann, entstanden riesige Protestbewegungen in allen Ländern des Kontinents, die den Krieg als »Völkermord« definierten und einen »sofortigen Waffenstillstand« forderten. Das Attentat der Hamas wurde dabei meistens abgelehnt und als Ergebnis der Besatzungspolitik betrachtet. Der Gazakrieg wurde als »unangemessen, überzogen und verbrecherisch« verurteilt.
In Chile finden vor dem Regierungspalast ständig riesige Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas und gegen den Krieg Israels statt.⁴ In Buenos Aires und anderen argentinischen Städten demonstrierten ebenfalls Tausende vor dem Regierungspalast zusammen mit den Müttern der Plaza de Mayo, die mit ihren weißen Kopftüchern auf ihre während der Militärdiktatur »verschwundenen« Kinder und Enkel aufmerksam machen und besonders die während des Gazakriegs getöteten Kinder thematisieren.⁵ Auch in Mexiko wird auf Demonstrationen die Parole »Es ist kein Krieg, es ist Völkermord!« und »Wo sind sie, die Sanktionen gegen Israel?« skandiert.⁶ In Brasilien gründeten 50 Organisationen im November 2023 die »Nationale Solidaritätsfront für Palästina«, die das »Komitee Freies Palästina« initiierte.⁷
Auch in rechts regierten Staaten gab es zahlreiche Protestaktionen gegen den Gazakrieg. So forderten Demonstranten in Paraguay, dass die Regierung ihr Votum gegen die UN-Resolution für eine »sofortige humanitäre Waffenruhe« vom November 2023 zurücknehmen solle.⁸
Auch autonome Basisbewegungen haben sich gegen den Gazakrieg positioniert. Kapitän Marcos, der als Subcomandante Marcos bekannte, ehemalige Sprecher der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN im mexikanischen Chiapas, gab bekannt: »Jede Bombe, die auf Gaza fällt, fällt auch auf die Hauptstädte und Metropolen der Welt, sie haben es nur noch nicht begriffen. Aus den Trümmern wird der Schrecken des Krieges von morgen entstehen. Die ermordeten palästinensischen Kinder sind kein Kollateralopfer, sie sind Netanjahus Hauptziel, das waren sie schon immer. Dieser Krieg dient nicht der Beseitigung der Hamas. Es geht darum, die Zukunft zu töten. Die Hamas wird nur das Kollateralopfer sein (…). Derjenige, der das Massaker vielleicht stoppen könnte, ist (…) das Volk Israels.«⁹ Ein weiteres Beispiel ist die Landlosenbewegung MST in Brasilien, die größte soziale Bewegung Lateinamerikas, die traditionell enge Beziehungen nach Palästina unterhält und nun Lebensmittel an die eingeschlossene und bombardierte Bevölkerung in Gaza liefert.
Die Haltung der Regierungen
In den Haltungen der lateinamerikanischen Regierungen zum Gazakrieg kann man deutlich zwischen Mitte-links-Regierungen und rechten Regierungen unterscheiden. Rechte Regierungen wie in Argentinien, Ecuador, Paraguay, Guatemala, Peru und El Salvador argumentieren mit dem »Recht auf Selbstverteidigung« und der »Vernichtung der Hamas«. Der ultrarechte Präsident Argentiniens, Javier Milei, strebt seit dem 10. Dezember 2023 ein strategisches Bündnis mit den USA und Israel an und möchte die argentinische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen. Anfang Februar 2024 besuchte Milei Israel, wo er den israelischen Präsidenten Isaac Herzog und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu traf.¹⁰
Das Attentat der Hamas haben die lateinamerikanischen Mitte-links-Regierungen in Brasilien, Mexiko, Bolivien, Nicaragua, Kuba, Honduras, Venezuela, Chile und Kolumbien ausnahmslos verurteilt. Ebenso fordern sie die Freilassung aller von der Hamas verschleppten und festgehaltenen Geiseln, unter denen sich auch Bürger lateinamerikanischer Staaten befinden. Die Art der Kriegführung Israels im Gazastreifen halten die Mitte-links-Regierungen jedoch für »unverhältnismäßig« und »völkerrechtswidrig«. Sie bezeichnen das Vorgehen Israels in Gaza als »Völkermord« und fordern sofortige Verhandlungen und ein schnelles Ende des Krieges.¹¹ Sie lehnen sich damit an die Protestbewegungen in Lateinamerika an. Kolumbien, Chile, Honduras und Brasilien haben ihre Botschafter aus Israel zurückgerufen, und Bolivien und Belize haben die diplomatischen Beziehungen zu Israel vollkommen abgebrochen. Jüngst hat Chile Israel die Teilnahme an der Anfang April in Santiago stattfindenden Internationalen Luft- und Raumfahrtmesse FIDAE untersagt.
Auch bezüglich des Abstimmungsverhaltens bei den Vereinten Nationen kann man sehr klar zwischen rechten und linken Regierungen unterscheiden. Der brasilianische Präsident Julio Ignacio Lula da Silva berief als nichtständiges Mitglied und Vorsitzender des UN-Sicherheitsrates kurz nach dem Attentat der Hamas eine Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates ein und legte einen Resolutionsentwurf für eine humanitäre Feuerpause, die Freilassung der Geiseln und die Sicherung lebenswichtiger Infrastruktur für Zivilisten vor.¹² Diese Resolution, die schon zu Beginn des Krieges dessen Eskalation und eine humanitäre Katastrophe verhindert hätte, scheiterte am Veto der USA.
In der UN-Vollversammlung vom 27. Oktober 2023 stimmte die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten für die Resolution für »den Schutz der Zivilbevölkerung und eine sofortige und dauerhafte humanitäre Waffenruhe« zusammen mit China und Russland gegen die USA und die EU. Die Resolution wurde angenommen. Von den lateinamerikanischen Staaten enthielten sich Haiti, Panama und Uruguay der Stimme, Guatemala und Paraguay stimmten mit den USA gegen die Resolution. Auch bei einer weiteren UN-Resolution vom 12. Dezember 2023 für einen »Waffenstillstand im Gaza«, die ebenfalls angenommen wurde, enthielten sich Argentinien, Uruguay, Haiti und Panama der Stimme, und Paraguay und Guatemala stimmten dagegen.¹³
Die lateinamerikanischen Mitte-links-Regierungen wie in Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Kuba, Venezuela, Nicaragua und Mexiko unterstützen die Klage Südafrikas gegen Israel wegen »Völkermordes gegen das palästinensische Volk im Gazakrieg« beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Ecuador, Paraguay, Uruguay, Argentinien, El Salvador, Guatemala und Peru waren gegen die Klage.
Südafrika beabsichtigte, in einer vorläufigen Entscheidung des IGH durch die Feststellung des Völkermordes einen sofortigen Waffenstillstand und somit ein Ende des Gazakriegs zu erreichen. In einem darauffolgenden Prozess soll endgültig entschieden werden, ob Israel Völkermord begangen hat. Bei der Klage spielt auch der Nachweis der Absicht, eine ethnische Gruppe eliminieren zu wollen, eine wesentliche Rolle, was durch diesbezügliche Äußerungen verantwortlicher Politiker wie zum Beispiel die öffentliche Aussage des israelischen Generals Ghassan Allians, dass die Menschen im Gazastreifen »menschliche Tiere« seien, belegt wurde.
Mit der Entscheidung des IGH zum Schnellverfahren vom 26. Januar 2024 wurde nicht die sofortige Einstellung der Angriffe Israels im Gazastreifen gefordert, sondern die Auflage an Israel erteilt, dass es in monatlichen Berichten beweisen solle, dass es keinen Genozid verübe. Damit wurden »plausible Anhaltspunkte« für genozidale Absichten durch das Gericht anerkannt.¹⁴ Für Südafrika und alle Unterstützer der Klage war das Urteil erst einmal ein Erfolg.