Die reaktionäre Welle
Die Hiobsbotschaften aus Argentinien reißen seit dem Wahlsieg von Javier Milei am 19. November nicht ab. Der neue Präsident strebt nicht weniger als eine neoliberale Schocktherapie an. Am 20. Dezember unterzeichnete er ein umfassendes Dekret, mit dem auf einen Schlag 300 Gesetze geändert werden. Ziel sei es, so Milei in einer Fernsehansprache, »den Weg des Wiederaufbaus unseres Landes einzuschlagen, dem einzelnen Freiheit und Autonomie zurückzugeben und mit dem Abbau der enormen Menge an Vorschriften zu beginnen, die das Wirtschaftswachstum in unserem Land behindert und gestoppt haben«.
Das Maßnahmenpaket, das Milei am Kongress vorbei verkündete, zielt auf die totale Deregulierung der Wirtschaft. Staatliche Vorschriften sollen abgeschafft, öffentliche Unternehmen wie beispielsweise die Ölgesellschaft YPF privatisiert und der Arbeitsmarkt sowie das Gesundheitswesen flexibilisiert werden. Bereits wenige Tage nach seinem Amtsantritt am 10. Dezember hatte Milei unter anderem den Abbau Tausender Stellen im öffentlichen Dienst, die Reduzierung von Sozialausgaben und die Kürzung öffentlicher Gehälter angekündigt. Auf dem Weg zum radikal neoliberalen Umbau des Landes drückt Milei auf die Tube.
Vorbild Bolsonaro
Doch nicht nur das. Das von der neuen Regierung angestrebte Argentinien ist – entgegen der Behauptung, Milei stehe in einer »liberalen« Tradition – extrem autoritär. Dem Widerstand gegen die Verarmungspolitik durch die organisierte Arbeiterbewegung und die Linke begegnet die Regierung mit Repression. Am 18. Dezember drohte die neue »Ministerin für Humankapital«, Sandra Pettovello, in den sozialen Netzwerken: »Wer blockiert, bekommt kein Geld.« Wer also den störungsfreien Ablauf des Verkehrs beispielsweise durch die Teilnahme an einer Demonstration beeinträchtigt, soll seine Sozialleistungen nicht wie gewohnt erhalten. Die Teilnehmer an den ersten Massenprotesten zwei Tage später ließen sich davon nicht beeindrucken.
Argentinien ist das jüngste Beispiel dafür, wie sich die Ultrarechte Wirtschaft und Gesellschaft vorstellt – auch wenn die Auswirkungen der Schocktherapie auf den überwiegenden Teil der Bevölkerung in Gänze wohl erst später sichtbar werden dürften. Gleichzeitig steht der Triumph von Milei exemplarisch für eine Reihe ultrarechter Erfolge in Lateinamerika im zu Ende gehenden Jahr 2023. Dazu gehören der Wahlsieg des Bananenbarons Daniel Noboa in Ecuador sowie das Erstarken extrem reaktionärer Akteure.
Eine neue Spielart der Ultrarechten trat besonders mit dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro 2018 in Brasilien auf die lateinamerikanische Bühne – abseits des traditionellen Parteienspektrums. Auch heute, fünf Jahre später, ist Bolsonaro als Verkörperung des Antipolitikers, der marktradikale Positionen mit autoritärem Stil verknüpft, eine Referenz für die lateinamerikanische Rechte. Zwar konnte er Ende 2022 bei der Präsidentenwahl vom Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva knapp besiegt werden. Trotzdem gehörten die ersten Tage des Jahres 2023 zumindest indirekt ihm: Am 8. Januar probten fanatische Anhänger des Wahlverlierers den Sturm auf das Parlament, den Obersten Gerichtshof und den Palast Planalto in der Hauptstadt Brasília, um Lulas Amtsantritt zu verhindern. Der Putschversuch im Stile der Anhänger von Donald Trump scheiterte. Die Episode zeigt trotzdem, dass der sogenannte Bolsonarismus in Brasilien weiterhin über breite Unterstützung in der Bevölkerung verfügt.
In anderen Ländern ist die Rechte an der Regierung. Trotz massenhafter Proteste gerade zu Beginn des Jahres in Peru konnte sich Dina Boluarte, die durch den Putsch gegen Pedro Castillo im Dezember 2022 ins Präsidentenamt gekommen war, an der Macht halten. Das verdankt sie vor allem der brutalen Repression gegen größtenteils indigene Antiregierungsdemonstranten, die Dutzende Opfer forderte. Der Ruf nach sofortigen Neuwahlen verhallte ungehört, voraussichtlich erst im kommenden Jahr werden die Peruaner ein neues Staatsoberhaupt wählen können.
Der Putsch gegen Castillo erlaubte es der Ultrarechten in Peru, sich neu aufzustellen. Besonders Rafael López Aliaga von der Partei Renovación Popular gelang es, ins Rampenlicht zu treten. Der Unternehmer, der dem Opus Dei angehört, präsentiert sich als radikal-konservativ und neoliberal. Nach seiner Niederlage bei der Präsidentenwahl 2021 gegen Castillo gewann er im Jahr darauf die Kommunalwahlen in der Hauptstadt Lima. Seit Amtsantritt zu Beginn dieses Jahres nutzt er die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit, um sich für die kommenden Präsidentenwahlen ins Spiel zu bringen. Dabei inszeniert er sich als extrem nationalistischen, antikommunistischen und LGBTIQ-feindlichen Kämpfer gegen das Establishment.
Auch in Chile war das Jahr 2023 von einem Aufstieg der Ultrarechten geprägt. Zwar wird das Land vom Sozialdemokraten Gabriel Boric regiert. Das politische Tagesgeschehen dominiert jedoch immer mehr der Sohn eines deutschen Wehrmachtsoldaten und Anführer des Partido Republicano, José Antonio Kast. Nach dem Einzug in die Stichwahl ums Präsidentenamt 2021 im Aufwind, gelang der chilenischen Rechten mit dem klaren »Nein« im Referendum zum progressiven Verfassungsentwurf 2022 ein so nicht erwarteter Erfolg. Bei den Wahlen zum Rat, der mit der Ausarbeitung eines neuen Entwurfs beauftragt wurde, konnte der Partido Republicano ganze 22 der insgesamt 51 Sitze gewinnen.
Umdeutung der Geschichte
Zwar wurde der vorgeschlagene Text der neuen chilenischen Verfassung in einem erneuten Referendum am 17. Dezember von der Mehrheit abgelehnt, was der Rechten einen Dämpfer verpasste. Trotzdem ist davon auszugehen, dass der Aufstieg von Kast dadurch nicht gestoppt wird. Den Debatten im Chile des Jahres 2023 drückte der Ultrarechte bereits seinen Stempel auf, geprägt waren sie von den Themen Kriminalität, Gewalt gegen Polizeibeamte und Migration. Hinzu kommt ein von Kast – einem Verehrer des ehemaligen Diktators Augusto Pinochet – betriebener Geschichtsrevisionismus. Demnach sei Chile durch den Putsch am 11. September 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende »vom Marxismus befreit« worden – eine Aussage, der laut einer Umfrage im März rund ein Drittel der Bevölkerung zustimmte.
Kast steht außerdem für die Bemühungen der lateinamerikanischen Ultrarechten, sich international zu vernetzen: mit Kadern aus dem Umfeld von Donald Trump, mit Bolsonaro oder auch mit der spanischen Partei Vox. Seit 2022 hat der Führer der Republicanos den Vorsitz des Political Network for Values inne, eines Thinktanks, der rechte bis ultrarechte Akteure weltweit vereint. Regelmäßige Konferenzen dienen dem Austausch über konservative Familienpolitik und Werte ebenso wie über erfolgreiche Strategien.
Zentral für die internationale Vernetzung der lateinamerikanischen Reaktionäre sind auch die Vizepräsidentinnen Argentiniens und Ecuadors, Victoria Villarruel und Verónica Abad Rojas. Letztere konnte im Duo mit dem Bananenunternehmer Noboa am 15. Oktober die Stichwahl gewinnen. Die Amtszeit, die am 25. November begann, geht nur bis zum 24. Mai 2025, dem Ende der für den Expräsidenten Guillermo Lasso vorgesehenen Regierungsdauer. Der hatte im Mai vorgezogene Neuwahlen ausgerufen, wodurch er einem Amtsenthebungsverfahren wegen Unterschlagung zuvorkam. Ecuador versinkt seit Jahren in einem Sumpf aus Korruption, Banden- und Drogengewalt sowie Armut.
Während Noboa durchaus die traditionelle Oligarchie des Landes vertritt, bewegt sich Abad Rojas in ultrarechten Kreisen. Noch vor ihrem Amtsantritt stattete sie im November dem Vox-Chef Santiago Abascal in Madrid einen Besuch ab. Dabei erklärte sie, der spanische Politiker könne »bei der Verteidigung unserer gemeinsamen Werte auf meine Unterstützung aus Ecuador zählen«. Ebenfalls im November nahm Abad Rojas als Sprecherin am »Gipfel der Iberosphäre« in der spanischen Hauptstadt teil. Das von Vox und seiner Stiftung Disenso organisierte Event gehört zu einem der wichtigsten Foren für die Vernetzung der Ultrarechten zwischen Europa und Lateinamerika.
Ebenso wie Abad Rojas unterhält ihre argentinische Amtskollegin Villarruel beste Beziehungen zu Vox, die bis ins Jahr 2019 zurückreichen. Villarruel, die aus einer Familie hochrangiger Militärs kommt, negiert die während der Diktatur (1976–1983) begangenen Verbrechen und hetzt in ultrakatholischer Manier gegen Feminismus und LGBTIQ. Auch wenn Villarruel schlussendlich nicht das von ihr angestrebte Amt als Innenministerin bekam: Die Erfolge extrem reaktionärer Akteure in Lateinamerika – im Falle Argentiniens und Ecuadors sogar der Eintritt in die Regierung – sind ein beunruhigendes Zeichen.