Rede von Gerhard Merschenk (GeFis) zur Kundgebung in Berlin am 15.07.2023 zur Unterstützung des „GIPFELS DER VÖLKER“ in Brüssel
Am Montag und Dienstag nächster Woche findet nach acht Jahren wieder ein Gipfeltreffen, das dritte, zwischen der Europäischen Union und der CELAC, der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, statt. Die CELAC umfasst mit 33 souveränen Nationen alle Staaten des amerikanischen Kontinents mit Ausnahme der USA und Kanada und repräsentiert damit über 550 Millionen Menschen. Die EU umfasst 27 Länder mit einer Bevölkerung von etwa 450 Millionen Bürgern. Also zwei mehr oder weniger gleichgewichtige Staatenbündnisse, würde man meinen. Aber weit gefehlt. Während die CELAC-Staaten davon ausgehen, mit der EU auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln, glaubt die EU immer noch, sich die Haltung einer Kolonialmacht zu abhängigen Ländern leisten zu können. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die CELAC-Staaten haben nach der Krise in den Jahren 2018/2019 – bedingt durch die reaktionären Regierungen in einigen Mitgliedsstaaten wie Kolumbien, Brasilien, Argentinien und Chile, die die Mitgliedschaft suspendiert hatten – jetzt ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, besonders dank der Rückkehr Argentiniens und der Wirtschaftsmacht Brasilien in den Staatenbund unter Präsident Lula. Und das ist der Schlüssel zum tieferen Verständnis der Situation, in der das Gipfeltreffen stattfindet. Wie immer bei solchen Treffen geht es in erster Linie um die Wirtschaft, was dann in politische Forderungen umgemünzt wird. Brasilien ist nicht nur die führende Wirtschaftsmacht in Lateinamerika, sondern speziell im MERCOSUR, dem gemeinsamen Markt von Uruguay, Paraguay, Argentinien und Brasilien. Und im Mittelpunkt des CELAC-EU-Treffens steht unangefochten das angestrebte Freihandelsabkommen, über das seit 1999, also seit mehr als 20 Jahren verhandelt wird, und das den größten Freihandelsraum in der Welt darstellen würde. Entsprechend ihrer neokolonialen Haltung versucht die EU, den Mercosur-Ländern weiterhin den Status billiger Rohstofflieferanten aufzuzwingen, wobei es mittlerweile nicht mehr nur um die traditionellen agrarischen und mineralischen Rohstoffe geht, sondern angesichts der Energiewende in zunehmendem Maße um Lithium und „grünen“ Wasserstoff. Aber diese Länder sind nicht mehr bereit, diese ihnen zugedachte Rolle zu spielen. Besonders Brasilien nach der Deindustrialisierung unter Bolsonaro und Argentinien bestehen auf einer Industrialisierung ihrer eigenen Länder, wie es Bolivien bereits vormacht. Deutlich wird das an den Worten des argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, der die fehlende Bereitschaft der EU zu einem Konsens bemängelte: „Niemand kann uns dazu verdammen, die Lieferanten von Rohstoffen zu sein, die von anderen industrialisiert werden, damit sie die Produkte zu Wucherpreisen an uns verkaufen können“.
Die Zeiten, in denen die EU den Ländern des globalen Südens Bedingungen für Verträge diktieren konnte, sind offenbar vorbei. Und trotzdem fügte die EU dem Verhandlungstext eine Klausel hinzu, infolge derer die Mercosur-Länder bestraft werden sollen, wenn gewisse Punkte nicht eingehalten werden, während ein solcher Passus für die EU-Länder nicht vorgesehen ist. Mit einer solchen Klausel wolle die EU Gesetze „außerhalb ihres Hoheitsgebiets“ erlassen, kritisierte Lula da Silva und forderte zu Recht, dass die Grundlage zwischen Partnern „gegenseitiges Vertrauen“, nicht „Misstrauen und Sanktionen sein sollte“. Wenn es die EU wirklich ernst meinte mit der viel beschworenen gleichen Augenhöhe, müsste sie die Bedenken ihrer Partner anhören und ihre neokoloniale Arroganz ablegen. Aber dazu ist die EU offensichtlich nicht bereit und schreckt nicht vor schmierigen und unfairen Tricks zurück, um ihre Ansichten auf dem Gipfel durchzusetzen. So organisierte sie im Vorfeld des Gipfels ein hybrides Forum, zu dem von der EU die „Jugend, die Zivilgesellschaft und lokale Autoritäten“ aus Lateinamerika und Europa eingeladen wurden. Dabei hat die europäische Seite einseitig entschieden, wer die lateinamerikanische Region bei diesen Veranstaltungen vertritt. Klarer kann neokoloniale Arroganz nicht zum Ausdruck kommen. An der Präsenzveranstaltung nehmen nur der EU genehme geladene Gäste teil, für die Online-Teilnahme ist eine Registrierung auf einer Webseite der Europäischen Kommission notwendig. Zu den ausschließenden Faktoren für eine Teilnahme gehört die Verwendung einer Plattform für Videokonferenzen, die die kubanische Bevölkerung wegen der US-Blockade nicht benutzen kann. Dieses handverlesene parteiische Forum soll „Empfehlungen“ für den Celac-EU-Gipfel ausarbeiten und „eine engere Zusammenarbeit zwischen nichtstaatlichen Akteuren und Jugendorganisationen aus beiden Regionen“ vorbereiten. Das Ergebnis ist vorauszusehen, denn was soll dabei rauskommen, wenn Themen wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit für die lateinamerikanische und karibische Region oder die Notwendigkeit einer Reform der derzeitigen Finanzarchitektur und Wirtschaftsordnung vermieden werden. Die Foren befassen sich auch nicht mit den Problemen, die sich für die Region durch die Covid-19-Pandemie und die folgende tiefe Wirtschaftskrise sowie durch die EU-Sanktionen gegen Russland ergeben haben.
Dieser Punkt ist deshalb interessant, weil die EU vor einem Monat an die Celac-Vertreter einen Text schickte, um auf dem Gipfeltreffen eine „entschlossene Verurteilung“ Russlands zu erreichen.
Als Antwort darauf haben die lateinamerikanischen Länder jedoch aus den Textentwürfen alles, gestrichen was mit der Ukraine zu tun hat. Auch die von der EU vorgesehene Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an dem Gipfeltreffen stieß auf Widerspruch. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez hat aufgrund des Widerstands der lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs die Einladung wieder zurückgezogen.
Angesichts der Versuche seitens der EU, die CELAC-Länder in der Ukrainefrage auf ihre Seite zu ziehen, haben die Länder Lateinamerikas und der Karibik ihre neutrale Haltung und ihre Forderung nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts in Osteuropa bekräftigt.
Sie schlagen ihrerseits vor, dass die EU- und Celac-Mitglieder in ihrer gemeinsamen Erklärung „für eine ernsthafte und konstruktive diplomatische Lösung des derzeitigen Konflikts in Europa mit friedlichen Mitteln eintreten, die die Souveränität und Sicherheit von uns allen sowie den regionalen und internationalen Frieden, die Stabilität und die Sicherheit gewährleistet“.
Zugleich besteht ein von der Celac vorgelegtes Dokument darauf, dass die europäischen Mächte Reparationen für die während der kolonialen Besetzung verursachten Schäden bezahlen. Dies ist gerade für die karibischen Länder eine besonders wichtige Forderung.
Diese Haltung besagt eindeutig, dass diese Länder nicht länger nach der Pfeife des Westens tanzen wollen. Das neue Selbstbewusstsein rührt auch daher, dass es durchaus veritable Alternativen gibt. Gerade China bietet der Region viele Möglichkeiten, ist nicht umsonst inzwischen der wichtigste Handelspartner in der Region. In China sehen die meisten einen guten Partner, der ihre staatliche Souveränität respektiert – und keinen systemischen Rivalen.
Auch die Abhängigkeit vom US-Dollar soll verringert und die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sollen diversifiziert werden, weshalb bereits an strategischen Allianzen mit anderen internationalen Akteuren wie China gearbeitet wird, die Alternativen zum Dollar im Handel und bei Investitionen bieten.
Der brasilianische Präsident Lula da Silva stellte klar: „Es waren nicht die Afrikaner, die die Welt verschmutzt haben, es sind nicht die Lateinamerikaner, die die Welt verschmutzt haben, sondern diejenigen, die den Planeten in den letzten zweihundert Jahren verschmutzt haben, waren diejenigen, die die industrielle Revolution gemacht haben, und deshalb müssen sie die historische Schuld gegenüber dem Planeten Erde bezahlen“.
Es ist zu hoffen, dass sich die EU mit ihrer neokolonialen Arroganz auf dem Gipfel nicht durchsetzen wird, sondern ein für alle akzeptables Ergebnis zum gegenseitigen Nutzen erzielt wird.
Deshalb unsere Unterstützung für den Gipfel der Völker, einer freien Zusammenkunft aller mit der CELAC solidarischen Organisationen, der zeitgleich mit dem Gipfeltreffen in Brüssel stattfindet und den Willen der Völker zur Errichtung einer besseren, von hegemonialen Bestrebungen und einseitigen völkerrechtswidrigen Sanktionen freien multipolaren Welt zum Ausdruck bringt.
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