Mit der Brechstange
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Von Jörg Kronauer
Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Spaniens Premierminister Pedro Sanchez(Brüssel, 17.7.2023)
Er tobte schon seit Wochen, der Streit um die Abschlusserklärung, der den EU-CELAC-Gipfel bis in den späten Montagabend und dann gleich wieder über den Dienstag beschäftigte. Der Grund? Die EU beharrte verbissen darauf, in dem Papier Russland explizit für seinen Krieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Schon im Juni hatte sie einen Entwurf für die Abschlusserklärung an die CELAC überstellt, der dazu ausgedehnte, scharf formulierte Passagen enthielt. Nun fragt man sich – und das haben auch viele in der CELAC getan: Was hat der Krieg denn eigentlich mit den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika zu tun? Die Union und einige ihrer Mitgliedstaaten, an vorderster Stelle Deutschland, legen zur Zeit schließlich vor allem Wert darauf, stärkeren Zugriff auf Lateinamerikas Rohstoffe zu erhalten. Müssen sie den Subkontinent, der in dem Krieg so neutral zu bleiben versucht wie in den Kriegen des Westens gegen Jugoslawien, den Irak oder Libyen, denn wirklich um jeden Preis auf ihre Seite ziehen?
Der Gegenentwurf für die Abschlusserklärung, den die CELAC-Staaten Anfang Juli nach Brüssel schickten, enthielt denn auch keine der scharfen EU-Formulierungen zum Ukraine-Krieg mehr. Statt dessen hatte die CELAC eine Passage eingefügt, die offen aufforderte, eine diplomatische Lösung für den Krieg anzustreben und damit »die Souveränität und Sicherheit von uns allen zu garantieren«. Das ist das Ziel, das sämtlichen Vermittlungsversuchen aus dem globalen Süden – von China über Indien bis Brasilien – zugrunde liegt. Dass die CELAC an ihm nicht nur im stillen festhält, sondern sich stark genug fühlt, der EU sogar offen die Stirn zu bieten, das ist neu.
Und die EU? Sie verkämpfte sich am Dienstag bis zum letzten Moment für den Versuch, der CELAC eine Verurteilung Russlands aufzunötigen. Dabei nahm sie neue Spannungen mit den Staaten Lateinamerikas in Kauf, die sie doch eigentlich in Sachen Rohstoffe umwerben wollte. Warum? Weil es eines gibt, das für EU und für ihre Mitgliedstaaten noch wichtiger ist: die globale Dominanz des Westens. Die aber schwindet. Das zeigt sich aktuell besonders klar und deutlich daran, dass es den westlichen Mächten partout nicht gelingen will, Russland zu isolieren – nicht in Afrika, nicht in Asien (bis auf Japan und Südkorea) und bislang auch nicht in Lateinamerika. Auf ihrem Gipfel mit der CELAC setzte die EU nun mit aller Gewalt die Brechstange an. Das Ergebnis: Der Streit dauerte bei Redaktionsschluss noch an. Schon das bestätigt: Lateinamerika meint es mit seinem Widerstand gegen Zumutungen aus Europa ernst. Sein Aufstand hat begonnen.