Staatsstreich in der Luft
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Jahresrückblick 2022. Heute: Brasilien. Lula gewinnt Präsidentenwahl. Amtsinhaber Bolsonaro will sich nicht von seinem Posten lösen
Von Volker Hermsdorf
Brasilien beginnt das Jahr 2023 mit der Hoffnung auf einen Politikwechsel durch Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Lula, der als Gründungsmitglied der linken Arbeiterpartei »Partido dos Trabalhadores« (PT) das Präsidentenamt bereits von 2003 bis 2011 innehatte, war in einer Stichwahl am 30. Oktober – mit dem knappen Vorsprung von 50,9 gegenüber 49,1 Prozent der abgegebenen Stimmen vor dem ultrarechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro – zum künftigen Staats- und Regierungschef gewählt worden. Der Sieg Lulas und die damit verbundenen Erwartungen waren für das bevölkerungsreichste und flächenmäßig größte Land Südamerikas das herausragendste Ereignis des Jahres 2022.
Bolsonaro, dessen Anhänger zwei Wochen vor der Amtsübergabe am 1. Januar mit gewalttätigen Ausschreitungen demonstrierten, dass der Rechte Sektor das Ergebnis der Präsidentenwahl weiterhin nicht anerkennen wird, obwohl das Oberste Wahlgericht einen Antrag auf Annullierung gerade erst abgelehnt hat, hinterlässt ein zutiefst gespaltenes Land mit einer verheerenden Bilanz seiner vierjährigen Amtszeit. Auf das Konto seiner Regierungszeit gehen rund 700.000 Opfer der Covid-19-Pandemie, nach den USA die zweithöchste Zahl weltweit. Bolsonaro wird vorgeworfen, die Pandemie verharmlost, Falschinformationen verbreitet und keine Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung initiiert zu haben. Zudem hatte er das marode Gesundheitswesen des Landes bereits zu Beginn seiner Amtszeit durch Ausweisung von rund 8.000 kubanischen Medizinern weiter geschwächt. Auch die Abholzung von rund 11.400 Quadratkilometern Regenwald im Amazonasgebiet erreichte unter dem Ultrarechten zwischen 2019 und 2022 – wie die Armut im Land – einen historischen Höchststand.
Am 200. Jahrestag der Unabhängigkeit demonstrierten am 7. September Zigtausende mit dem »Grito dos Excluídos« (Schrei der Ausgeschlossenen) gegen die unter Bolsonaro immer größer gewordene soziale Ungleichheit. Zum Ende seiner Amtszeit sind in Brasilien mehr als sechs Millionen Haushalte von Wohnungsnot betroffen und 33 Millionen Menschen leiden Hunger. Etwa fünf Millionen Familien gelten als landlos. Afrobrasilianer, die sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind überproportional in der armen Bevölkerung vertreten. Nicht viel besser ergeht es den Angehörigen indigener Völker.
Herkulesaufgabe für Lula
Bei seiner Amtseinführung am 1. Januar 2023, an der mehr als ein Dutzend Staatsoberhäupter aus aller Welt sowie König Felipe VI. von Spanien teilnehmen wollen, steht Lula vor dem Scherbenhaufen der Bolsonaro-Ära und einer Herkulesaufgabe. Noch am Wahltag hatte er sich zu ambitionierten Zielen bekannt. Seine Regierung werde dem Kampf gegen den Hunger oberste Priorität einräumen, das Wohnungsbauprogramm »Mein Haus, mein Leben« sowie Hilfsprogramme wieder aufnehmen, um Familien aus der Armut zu holen, erklärte er. Außerdem soll ein Ressort für indigene Völker eingerichtet werden, »damit diese Gemeinschaften nie wieder respektlos wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden«. Lula versprach zudem, die Überwachung des Amazonasgebietes wieder aufzunehmen und illegale Abholzungen zu beenden.
Als wichtiges außenpolitisches Ziel wolle er die Beziehungen zu den übrigen BRICS-Staaten Russland, Indien, China und Südafrika intensivieren, kündigte Lula an. »Die Anwesenheit zahlreicher Staats- und Regierungschefs bei der Amtseinführung ist Teil der Wiedereingliederung Brasiliens in die Weltbühne nach der internationalen Isolation der Regierung des Präsidenten Jair Bolsonaro«, betonte der Leiter des Koordinierungsteams der Einweihungsfeier, Fernando Igreja, Anfang Dezember im lateinamerikanischen Nachrichtensender Telesur. Als Beispiel für dessen verfehlte Außenpolitik nannte Igreja die Aussetzung der Beziehungen zur gewählten Regierung Venezuelas und die Unterstützung des Oppositionspolitikers Juan Guaidó, der sich selbst zum »Interimspräsidenten« ernannt hatte. Da Bolsonaro formal noch amtiere, sei es nicht möglich gewesen, Präsident Nicolás Maduro auf diplomatischem Wege einzuladen, weshalb nun nach einer Lösung gesucht werde, damit er trotzdem teilnehmen könne, sagte Igreja.
In Zeiten der Übergangsphase von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung hat der Wechsel an der Spitze des mit rund 215 Millionen Einwohnern der Bevölkerung nach siebtgrößten Staates der Erde große international Bedeutung. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1.608 Milliarden US-Dollar (2021) ist Brasilien zugleich die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Land ist der drittgrößte Nahrungsmittelhersteller der Welt und der größte Produzent von tierischem Eiweiß. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen und die große Agrarwirtschaft machen den südamerikanischen Staat zum interessanten und begehrten Handelspartner. Im Kampf gegen den Klimawandel spielt zudem der als »grüne Lunge der Erde« geltende Regenwald im Amazonasgebiet eine wichtige Rolle.
Partnerschaft mit China
Während der als Bewunderer Donald Trumps geltende scheidende Präsident Bolsonaro auch für die Regierung von Joseph Biden ein enger und zuverlässiger Verbündeter war, dürfte Lula eine größere außenpolitische Unabhängigkeit von Washington anstreben. China ist bereits seit 2009 Brasiliens größter Handelspartner. Unter Bolsonaro haben die bilateralen Beziehungen allerdings mehrere Höhen und Tiefen erlebt, da dessen Anhänger vor allem während der Covid-19-Pandemie eine chinafeindliche Haltung eingenommen hatten. Nach der Wahl Lulas unterstrich das Außenministerium in Beijing, China hoffe, die Beziehungen beider Länder mit Lula auf ein neues Level zu heben. Das beruht offenbar auf Gegenseitigkeit. Der designierte Präsident dankte Chinas Staatschef Xi Jinping Anfang Dezember für dessen Engagement »für die globale strategische Partnerschaft« zwischen den beiden Ländern.
Auch im Verhältnis zu Russland lässt Brasilien sich nicht in die feindliche Sanktionspolitik der USA und der EU einbinden. Präsident Wladimir Putin hatte Lula mit dem Hinweis gratuliert, er setze »auf die weitere Entwicklung der konstruktiven russisch–brasilianischen Zusammenarbeit«. Mit beiden Ländern ist Brasilien bereits seit Jahren in der BRICS-Gruppe, deren Bedeutung Lula stärken will, eng verbunden. Schon jetzt leben in den fünf Ländern mit über drei Milliarden Menschen rund 40 Prozent der Weltbevölkerung. Durch den geplanten Beitritt Argentiniens und anderer Interessenten werden Bedeutung und Einfluss dieser aufstrebenden Volkswirtschaften weiter zunehmen.
Ein außenpolitisch unabhängigerer Kurs Brasiliens dürfte den Regierungen der USA und der EU-Länder ebenso wenig ins Konzept passen wie multinationalen Konzernen und den einheimischen Wirtschaftseliten. Da Lula den konservativen und unternehmerfreundlichen Exgouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, zum Vizepräsidenten machen will, wird es ihm schwerfallen, alle in ihn gesetzte Erwartungen zu erfüllen. Außerdem sind der »Bolsonarismus« und das rechte Lager stark genug, um eine progressive Politik zu behindern. Im Parlament stellen die Rechten mit Bolsonaros »Partido Liberal« (PL) im Abgeordnetenhaus wie auch im Senat mehr Abgeordnete als das von der PT geführte Bündnis »Hoffnung Brasilien«. Auch über dem Hoffnungsträger Luiz Inácio Lula da Silva schwebt also – wie bei seinem kürzlich gestürzten peruanischen Amtskollegen Pedro Castillo – von Anfang an das Damoklesschwert eines parlamentarischen Staatsstreichs.