Der Don Quijote von Havanna
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Notas de Cuba Von Ken Merten
In einem leeren Springbrunnen fahren Kinder Rollschuh. An den Ständen stapeln sich süße Kochbananen. Die Calle Máximo Gómez, Calle Monte genannt, bildet die Grenze zwischen Centro Habana und Habana Vieja. Viele der Häuser sind vom Verfall bedroht, besonders in diesen Stadtteilen kommt es regelmäßig zu Balkoneinstürzen, und hier wird sich an der Bushaltestelle auch mal wegen Geldschulden oder einer Hand in der Tasche des anderen gedroschen. Armut ist nicht abwesend in Kuba, und die Reichtumsverteilung ist mit der notwendigen Konzentration auf den Tourismus nicht einfacher geworden.
Das bringt gar nicht so kleine Nebenwidersprüche mit sich. Wird man als womöglich kaufkräftiger Ausländer identifiziert, dann kann einem auch Illegales offeriert werden. So sehr die Regierung Drogenhandel und Prostitution bekämpft – die Strafen dafür sind kein Spaß –, sie existieren vor allem da, wo Armut aktuell nicht völlig aufgehoben werden kann. Die Kollision mit dem, was zahlungsbereite Touristen an Bedürfnissen mitbringen, schafft den heimlichen Markt. Den stärker zu unterdrücken – jeder Vorstellung vom »autoritären« Kuba widersprechend –, dafür reicht es nicht an Staat, an Kontrollkapazitäten und -instrumenten.
Nichtsdestotrotz sind die Verbote von Sex- und Drogenkauf nicht praktisch ausgehebelt. Eine Gesetzgebung, die aus den Erfahrungen des vorrevolutionären Kubas herrührt, als die Insel Tagesausflugsziel reicher US-Amerikaner war, die sich in Havanna beim Glücksspiel vollaufen ließen, danach ins Bordell schwankten, um abends das Schiff zurück in die bürgerlich-gesittete Heimat zu nehmen. Die Verbote reagieren auch auf lateinamerikanische Realitäten, in denen die Drogenindustrie ein doppeltes Ausbeutungsverhältnis von fremder und Kompradorenbourgeoisie manifestiert. Eine »tödliche Falle«, wie es Fidel Castro in seiner Rede vom 15. Oktober 2009 ausdrückte, als er für den Friedensnobelpreis statt Barack Obama den damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales vorschlug. Knapp zwei Monate später, am 11. November, hielt Castro in seinem ebenfalls zur Desillusionierung über das damals neue US-Staatsoberhaupt verfassten Artikel »Una historia de Ciencia Ficción« (»Eine Science-Fiction-Geschichte«) fest: »Kuba hat gezeigt, dass zur Drogenbekämpfung vor allem Gerechtigkeit und soziale Entwicklung notwendig sind. In unserem Land ist die Kriminalitätsrate pro hunderttausend Einwohner eine der niedrigsten der Welt. Kein anderes Land in der Hemisphäre kann eine so niedrige Gewaltrate vorweisen.«
Vergangenen Herbst, zum fünften Todestag des Comandante en jefe, wurde das Centro Fidel Castro Ruz eröffnet. Wir spazieren im morgendlichen Schatten von der Calle Monte in den Stadtteil Vedado. Klassische Moderne, Art déco – hier befinden sich auch die meisten Botschaften. »So sähe es in Kuba überall aus, wenn die Blockade nicht wäre«, sagt einer von uns. Das Gebäude ist für uns kurzfristig geschlossen. Staatsbesuch aus dem westafrikanischen Guinea-Bissau erhält den Vortritt, unser Termin verschiebt sich. Warten und Limonada trinken.
Am Nachmittag geht es los: Neben dem Memorial de la Denuncia mit seiner Ausstellung über die von den USA ausgehenden Contra-Aktionen ist das Centro Fidel das modernste Museum, das wir in Kuba besuchen werden. Digitalisiert und interaktiv: In eine Weltkarte steckt man Glaszylinder, um Informationen über die Zusammenarbeit Kubas mit dem jeweiligen Land abzurufen. Ein anderer Raum zeigt, aufwendig animiert, die Schweinebucht-Invasion von 1961. »Ich bekomme Bock zu zocken«, sagt einer von uns und spricht damit an, an wen das Zentrum gerichtet ist: Jugendliche mit ihrem Medienkonsumverhalten. Die älteren unter den Besucherinnen und Besuchern bleiben eher bei Fidels Béisbol-Dress stehen oder vor der Büste, die Chinas Staatschef Xi Jinping bei seinem Besuch 2014 dem Abbildungen seiner selbst eher Abgeneigten schenkte. Die Arbeit des Bildhauers Yuan Xiun jedoch zeigt kein Kultsubjekt, sondern einen Fidel mit wachem Blick, zuhörend, aber schon die Lippen zur Erwiderung geöffnet, den Kragen verrutscht vom Gegenwind. Im gleichen Raum auch die Plastik, die Fidel auf seinem Arbeitstisch stehen hatte: ein Don Quijote. Den zweischneidigen Spitznamen »Don Quijote von Havanna« trug er gerne. Das angeblich Unmögliche und Unzeitgemäße seines Unterfangens mag der Griff zur Literatur zwar recht inkohärent auch ausdrücken – richtete sich Miguel de Cervantes’ Roman doch gegen eine feudalistische Rückwärtsgewandtheit im anbrechenden Kapitalismus. Der »Quijote des Volkes«, wie ihn Juventud Rebelde anlässlich des Todestages 2021 betitelte, hat die Mühlen des Kapitalismus nicht bekämpft, weil er sie als Märchenmonster verkannte, sondern weil sie jene Maschinen sind, die, wie Marx im ersten Band des »Kapitals« schrieb, sich die Arbeiter als »lebendige Anhängsel einverleibt«.
In Souvenirshop gibt es Büsten aus dem 3-D-Drucker, darunter Marx, keine von Fidel. Er hätte es so gewollt.