Blicke nach oben
https://www.jungewelt.de/artikel/435219.notas-de-cuba-blicke-nach-oben.html
Notas de Cuba
Von Ken Merten
Revolutionäre lassen die Finger davon: Bacardí. Der Rum der kubanischen Dissidenten, die, wie der vertriebene Diktator Batista, lieber das Land verließen. Von Santiago de Cuba ging es auf die Bermudas. Die Produktionsstätten wurden enteignet. Heute wird in der Stadt Santiago der Rum Santiago hergestellt.
Aber Bacardí bleibt Teil der Stadtgeschichte, nicht primär wegen der 1862 von Facundo Bacardí Massó (1814–1886) gegründeten Destillerie. Sein Sohn, Emilio Bacardí (1844–1922), war nicht nur Bürgermeister der Stadt und hat als Bürgerlicher seinen Platz im revolutionären Erbe Kubas; er ist auch Namensgeber des Provinzmuseums, das fünf Jahre nach seinem Tod von seiner Frau gegründet wurde.
Der Eingang des eklektisch-neoklassizistischen Baus von 1899 ist mit korinthischen Säulen versehen. Ursprünglich fand sich darin eine große Halle mit natürlichem Oberlicht. Zwischen 1988 und 1995 wurde das Gebäude saniert und eine Stahlbetondecke eingezogen.
Die Führung beginnt oben. Vor schwarzen Wänden werden im Treppenaufgang Werke auf Schabekarton des Dozenten an der Santiagoer Akademie für Bildende Kunst »José Joaquín Tejada«, Alejandro Lescay Hierrezuelo, ausgestellt. Dutzende, kleinformatige Grafiken, sichtlich mit Fotografien als Vorlage, zeigen unter dem Titel »La espera« (»Das Warten«) Alltagsmenschen – mit Basecaps manchmal, manchmal mit Handy halb vorm Gesicht –, deren Blicke auf einen nahen Punkt schräg über ihnen gehen. »Alejandro Lescay Hierrezuelo hat eine Entourage, einen Kreis aus Verbindungen geschaffen«, schreibt der Dichter Marino Wilson Jay in einem Kurzessay, der die Ausstellung einleitet. Sehnsucht kommt zum Ausdruck, »nach neuen Räumen«, die Werke seien »poetische Kritik, die nach Charles Baudelaire die tiefgründigste ist.«
Weiter. Im großen Saal Facunto Bacardís ehemaliger Privatbesitz. Es sind nicht nur weiße Wohlhabende, die hier dargestellt werden. Mit »Cabeza de negro« (1923) von Luis Desangles Sebillí findet sich das Porträt eines afrokubanischen Bauern im höheren Alter, trotz des Strohhuts die Augen von der Arbeit unter der Sonne für immer zugekniffen. Mit »Cabeza de negro alcoholico« (19. Jahrhundert, nicht genauer datiert) deutet José Joaquín Tejada (1867–1943), Direktor und Namensgeber der Kunstakademie Santiagos, die Suchtkrankheit durch geschwollene Tränensäcke lediglich an.
Gehalten sind die Porträts im Stile des mitteleuropäischen Realismus jener Zeit. Einflüsse nichteuropäischer Schulen als Ausdruck der stilistischen Dekolonialisierung und Ausprägung eigener Werkregeln finden sich in der kubanischen Kunst erst später, vor und vor allem nach der Revolution, die das Wachsen der Souveränität politisch fundierte.
Unter den ausgestellten Plastiken deuten die kubanischen an, dass der hiesige Stil nicht erst 1959 einsetzte: »Francisca« (1916) von Lucía Victoria Bacardí Cape (1893–1988) – Facundo Bacardís Enkelin – zeigt lebensgroß und in Gips ein schmales, nacktes Mädchen mit krausem, hochstehendem Haar, schockstarr in Angst vor einem Frosch, der an seiner Hüfte hinaufsteigt. So expressiv der angewidert-schreckhafte Gesichtsausdruck ob der recht surrealen Szene einer so ungewöhnlich anhänglichen Amphibie auch ist, markiert er doch auch einen Aspekt der Realität des armen Kubas. Bis heute ist der Frosch auf Kuba als Krankheitstransporteur Auslöser des Ekels. Rogelio Rodríguez Cobas mag mit seiner 80 Zentimeter großen Figur aus Stahlbeton, »La media« (»Der Durchschnitt«) betitelt, andeuten, dass Schönheitsideale kubanischer Prägung nicht denen Europas oder Nordamerikas, jener wie heutiger Zeit, entsprechen: Die dargestellte Frau ist stämmig, unter der Haut sind reichlich Muskeln verborgen. Sie ist so nackt wie gerüstet.
Das Bacardí-Museum birgt im Erdgeschoss Exponate der Landnahme durch die spanischen Kolonialisten. In Santiago befindet sich das älteste Haus Kubas, von den Spaniern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbaut. Santiago, die »Stadt der Helden«, ist seit dem Sturm auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 auch Ort der Initialzündung der erfolgreichen, später als sozialistisch deklarierten Revolution Kubas. Auch davon wird etwas gezeigt.
Eine Etage tiefer dann Ausstellungsstücke, die auf die indigen Wurzeln in der Region hinweisen. Von der ursprünglichen Bevölkerung Kubas überlebte niemand die Kolonialisierung. Es mag, so wurde uns schon bei unserm Besuch auf dem nach Christoph Columbus benannten Friedhof in Havanna angedeutet, einer von vielen Gründen sein, warum Debatten um Aneignung und Identitäten anders ablaufen hier auf Kuba. Standards aus mitteleuropäischen Seminarräumen sollte man hier nicht erwarten. »Auch meine Geschichte, unser aller Kubaner Geschichte, ist die Geschichte Afrikas«, sagte uns damals ein weißer Museumsmitarbeiter im afrikanischen Museum in Habana Vieja, und seine afrokubanische Kollegin nickte.
»Aneignung?« fragt uns die Führerin im Bacardí-Museum. »Wieso? Die Revolution hat die Aneignung abgeschafft.« Darüber, dass zwei Mumien, eine aus Panama und eine aus Ägypten, hier ausgestellt werden, habe sich bisher niemand beschwert, erklärt sie auf Nachfrage.