NOTAS DE CUBA Orwell, uff!
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Von Ken Merten
Erzähl mir was: Wandbild in Havanna
An mancher Wand in La Habana wird »1984« zitiert: »2 + 2 = 5«, steht dann da, was sagen soll, dass die Regierung lügt und was für richtig verkauft, was nicht aufgeht. Orwell ist die Lektüre der Dauerpubertären und geistigen Alphabetisierungsunwilligen, sage ich dem Gitarristen am Malecón, der sich gerade auf ein Ständchen für uns vorbereitet und über die Kommunistische Partei meckert, was das Zeug hält.
Ich weiß, wovon ich rede, denn wir waren am Vormittag im Museum der Alphabetisierungskampagne, gelegen in der Ciudad Escolar Libertad, direkt neben dem Militärkrankenhaus Carlos J. Finlay (alles Teil des größten Militärkomplexes), das Diktator Batista in Havanna hatte einrichten lassen und das nach der Revolution zu sozialen Zwecken zivilisiert wurde. Breite Paradestraßen zwischen Kasernenbauten, in denen jetzt Menschen wohnen und lernen. Auf dem Weg zum Museum begegnen wir Roberto, Baujahr 1947, Baustelle: kubanisches Bauernland in der Provinz Santa Clara. Er hatte mit 14 von der Hauptstadt gehört und wollte da unbedingt hin. Passenderweise war Revolution gewesen, passenderweise kam Che Guevara in sein Dorf, passenderweise nahm der ihn mit. Roberto, Turnbeutel von der spanischen Izquierda Unida umgehangen, schließt sich uns an.
Die 1961 initiierte Alphabetisierungskampagne wurde vorzeitig abgeschlossen: Am 22. Dezember 1961 wurde ein Land für frei von Analphabetismus erklärt, das noch wenige Monate zuvor eine Quote von 23,6 Prozent an Menschen aufwies, die nicht lesen und schreiben konnten. Bis heute ist Kuba neben den linksregierten Ländern Bolivien, Nicaragua und Venezuela eines von vier vollalphabetisierten Ländern Lateinamerikas.
Die Kampagne hatte zudem den Zweck, Stadtbewohnerinnen und -bewohner mit den Leuten auf dem Land in Verbindung zu bringen, wo den Bäuerinnen und Bauern vor der Revolution Bildung kaum zugänglich war. Und wo Contrabanden noch bis 1965 Stellung hielten. 31 verunfallten oder erkrankten tödlich, zehn der Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Lehrerhandbuch »Vencemeros« (die Museumsleiterin zeigt uns das ausgestellte Exemplar und geht damit um, dass es physisch wehtut) und den Lernheften »Alfabeticemos« von Dorf zu Dorf zogen, wurden teils bestialisch von Konterrevolutionären und lokalen Kriminellen, die ihre Macht gefährdet sahen, ermordet.
Kein Licht, kein Lesen: China, das selbst nach der Revolution den Analphabetismus erfolgreich bekämpfte, schickte Gaslampen. Insgesamt beteiligten sich Menschen aus 26 Nationen direkt, darunter die DDR-Bürgerin Tamara Bunke, in Kuba bis heute als »Tania, la Guerrillera« bekannt, die 1967 mit Che und anderen Revolutionären in Bolivien getötet wurde.
Kubas Kampagne »Yo sí puedo« (»Ja, ich kann«) exportiert Lernstoff bis heute in alle Welt, hat mehrsprachig Fernsehprogramme und Videos für afrikanische Länder und Radiosendungen auf Kreolisch produziert, damit Haitianerinnen und Haitianer lesen und schreiben lernen können. Auf der Fahne zur Alphabetisierung Boliviens entdeckt eine von uns das mit einem S übernähte Z. Das Museum ist auch ein Archiv: Die Museumsleiterin blättert und findet Robertos Steckbrief zur Kampagne; am 18. Dezember 1961 schloss er seinen Unterricht erfolgreich ab.
Zurück am Malecón ist der Gitarrist unbeeindruckt von meinen Ausführungen. Was besser zu machen sei, weiß er auch nicht, sagt er. Er baut uns ein in seine Version von »Hasta Siempre«: Wir sind Ausländer, wir wissen nichts von Kuba.
Und wir kommen zu spät: Zum Salsafestival auf der Straße hinter dem Hotel Nacional wird gerade die letzte Note gespielt, als wir eintrudeln, Kinder lassen ihre Drachen steigen, Eltern kaufen subventionierte Snacks.
Wir wollen Musik, also beißen wir in den sauren Apfel und ziehen weiter zur Fabrica de Arte. An deren Eingang fällt mir das Orwell-Zitat auf. Uff. Wir schauen uns die Ausstellung im obersten Geschoss an: »Carne de cañon« (»Kanonenfutter«) von Adonis Flores zeigt zu einem toten GI geformte rohe Koteletts. Ein anderes Foto ist von Mabel Poblet, die großformatige Aufnahme eines Frauenohrs. Das Bild ist zerschnitten, die Teile etwas voneinander weggerückt. Die Schnitte laufen auf den Gehörgang zu, es heißt »Ruido« (»Lärm«) und ist in seiner Bedeutung für das alkoholisierte Partyvolk angenehm lesbar.