Mediendiktatur des Westens
»Zensur im Namen der Demokratie«, »koloniales Modell«: Lateinamerikanische Reaktionen auf das EU-Verbot von RT und Sputnik
Von Volker Hermsdorf
Mit dem Verbot der russischen Nachrichtenportale RT und Sputnik haben EU-Politiker mal eben so Artikel 5 des Grundgesetzes der BRD außer Kraft gesetzt. Bürgern, die sich aus erster Hand über Positionen der Kriegsparteien informieren möchten, wird dies verwehrt. Journalisten werden in ihrer Berufsausübung eingeschränkt. Das restriktive Vorgehen gegen die grundgesetzlich mit »Ewigkeitsklausel« garantierte Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit wird in der deutschen Öffentlichkeit widerspruchslos hingenommen oder sogar unterstützt, gleichzeitig werden Angriffe auf Journalisten und Medien in Russland mehrheitlich scharf verurteilt. Die doppelten Standards werden in Lateinamerika aufmerksam registriert. Medienakteure wenden sich dort gegen die Außerkraftsetzung der Bürgerrechte durch die EU-Zensoren.
Die mexikanische Tageszeitung La Jornada bezeichnete das Verbot von Sputnik und RT in einem Leitartikel am 1. März als »bedrohlichen Präzedenzfall für die Meinungsfreiheit und das Recht auf Information«. Zu konstatieren sei ein Rückfall in die »dunkelsten Jahre des Kalten Krieges«. Das gern vorgetragene Argument, die zensierten Medien verbreiteten russische Propaganda, sei »ebenso kindisch wie parteiisch«. Zum einen sei es unmöglich, mit Sicherheit festzustellen, »was in den Medien der kriegführenden Länder Information und was Propaganda ist«, zum anderen gebe es mehr als zwei Sender, »die teilweise oder vollständig von Regierungen finanziert werden, die im aktuellen Konflikt die Ukraine unterstützen«. Die Zeitung verwies auf BBC, Deutsche Welle und Voice of America. In Kriegszeiten, »in denen sich Desinformationen, Fake News und vielfältig getarnte Medienlügen häufen«, sei es besonders wichtig, dass das Publikum verschiedene, auch widersprüchliche Darstellungen von Vorgängen miteinander abgleichen könne, heißt es in dem Leitartikel. Das EU-Verbot schade weniger der Regierung von Wladimir Putin als den betroffenen Gesellschaften, »die nun keine Bezugspunkte mehr haben (…) um zu verstehen, was in dem neuen geopolitischen Konflikt (…) geschieht«.
Vor der wachsenden Gefahr einer »globalen Mediendiktatur« zu warnen, bedeute nicht, »dass wir Putin oder einen Krieg unterstützen«, erklärte die argentinische Tageszeitung Pagina 12 am 4. März. Die Informationsverbote des Westens seien allerdings »Teil einer Strategie, auf die selbst die ehrlichsten Menschen hereinfallen«. Die Direktorin des lateinamerikanischen Nachrichtensenders Telesur, Patricia Villegas, erinnerte daran, dass ihr Sender schon mehrfach von rechten, US-freundlichen Regimen in Lateinamerika zensiert wurde. »Das war wie der erste Schritt auf dem Weg, den die Europäische Union jetzt weiter beschritten hat mit dem Verbot russische Medien. Im Namen der Demokratie werden abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht«, stellte die kolumbianische Journalistin fest. Ähnliche Kritik äußerten unter anderem die Föderation der Journalisten Lateinamerikas und der Karibik (FEPLAC), die Nationale Journalistenföderation Brasiliens (FENAJ) und die Gewerkschaft der Medienschaffenden in Buenos Aires (Sipreba).
Es gibt auch lateinamerikanische Länder, die den Betrieb von RT in jüngster Zeit – zumindest teilweise – einzuschränken versuchten, darunter Uruguay. Die Zensurmaßnahmen trafen auf Proteste hochrangiger Politiker. So versicherte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador am 1. März, seine Regierung werde nichts unternehmen, um »das Recht auf freie Meinungsäußerung zu irgendeinem Thema einzuschränken«. Der venezolanische Kommunikationsminister Freddy Ñáñez warf der EU vor, »die Realität und die Wahrnehmung zu manipulieren«. Der ehemalige Präsident Boliviens, Evo Morales, bezeichnete das EU-Verbot von RT und Sputnik als »Zwangsmaßnahmen«, und erklärte: »Europa verteidigt angeblich das Recht auf freie Meinungsäußerung. Jetzt sehen wir, dass es das Recht auf freie Information eher einschränkt.« Die »alte Welt« müsse »dieses Modell des Kolonialismus, der Putschisten und der Interventionisten überwinden«.