Big Stick
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Varianten der Gewalt. Entstehung und Methodik des US-Imperialismus in Lateinamerika gestern und heute. 16 Thesen
Von Ingar Solty
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 24. September 2021 über die Grunge-Band Nirvana.
Der nachfolgende Text ist die verschriftliche Fassung eines Vortrags, den Ingar Solty bei einer vom Netzwerk Cuba und der AG Kuba-Solidarität beim PV der DKP organisierten Tagung am 23. Oktober gehalten hat. (jW)
1.
Wenn wir von der Politik der USA und der US-dominierten NATO in Lateinamerika sprechen, dann müssen wir über Imperialismus sprechen und darüber, was Imperialismus ist und was nicht. Was ist Imperialismus? Der Imperialismus wurde in der marxistischen Diskussion lange überdehnt. Seine Unterscheidung vom Begriff Kapitalismus wurde dabei immer unklarer. Ein enger Imperialismusbegriff scheint darum wichtig, um nicht in Beliebigkeit zu verfallen. Imperialismus kann man politikwissenschaftlich definieren als die »offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines internen Regimes«.
Entscheidend ist das Moment der Politik. Das heißt, imperialistisch handeln Staaten. Entscheidend ist auch das Moment der Gewalt des einen, in der Regel starken Staates gegen einen anderen, in der Regel schwachen oder schwächeren Staat. Entscheidend ist schließlich auch das Außen-innen-Verhältnis, denn Imperialismus ist der Lösungsansatz für die inneren Widersprüche des Kapitalismus in seiner nationalstaatlichen Gestalt.
2.
Imperialismusanalyse zeigt dementsprechend auf, wie die inneren gesellschaftlichen Widersprüche einer Gesellschaft exterritorialisiert werden, d. h., wie der jeweilige Komplex von Staat und Zivilgesellschaft sich durch seine Politik nach außen absichert, die inneren Verhältnisse mit seiner Politik nach außen stabilisiert und reproduziert, sich entwickelt und seine inneren Widersprüche wenigstens temporär bearbeitet.
Diese Widersprüche sind das Ergebnis der Logik und der Geschichte des kapitalistischen Systems. Konkret: Der Kapitalismus ist ein Weltsystem, das als internationales Staatensystem organisiert ist. Im Staat verdichten sich institutionell die Kräfteverhältnisse der Klassen. In den Staatsapparaten bildet sich ein Machtblock mit dominanten (Kapital-)Fraktionen heraus, der die verschiedenen dominanten Interessen zu einem gemeinsamen Projekt bündelt. Je nach Machtblock und Projekt gestalten sich auch Staatsform (liberale Demokratie, Bonapartismus, Faschismus etc.) und Gewichtung von Staatsinstitutionen (wie zum Beispiel im heutigen globalen Kapitalismus die besonders herausgehobene Stellung von Finanzministerien und Zentralbanken, die der demokratischen Kontrolle entzogen werden, und die Abwertung von Arbeitsministerien usw.) je spezifisch aus.
Der Kapitalismus ist zwar als System von Nationalstaaten organisiert, aber die Tendenz zur Globalisierung ist ihm inhärent. Dadurch haben die Interessen des jeweiligen Machtblocks zwangsläufig eine Außendimension. Hierzu gehören so verschiedene wirtschaftspolitische Bereiche wie Waren- und Kapitalexport sowie Ressourcenimport bis hin zur Absicherung der eigenen Herrschaft nach innen durch Kriege nach außen, die – wenigstens in ihrer Anfangszeit und bei einer wahrgenommenen hohen Bedrohungslage – nach innen (re-)stabilisierend wirken, usw. Es gehört dazu aber auch die Bevölkerungspolitik, da die Durchsetzung kapitalistischer Eigentums- und Sozialverhältnisse immer mit Überschussbevölkerungen einhergehen, die den (siedlerkolonialistischen) Export dieser überzähligen, verelendeten Menschen vonnöten machen. England etwa exportierte seine Überschussbevölkerung, die als »gefährliche Klassen« erschienen (Pauper, Vagabunden, Kriminelle, potentielle Revolutionäre etc.), nach Nordamerika und später dann auch nach Afrika, Australien und Asien.
Die Interessen des Machtblocks und der in ihm dominierenden Kapitalfraktionen werden nun mit den Mitteln der Außenpolitik durchgesetzt. Diese Mittel sind vielgestaltig. Ein wichtiges Machtmittel der Politik ist die offene Gewalt. Der Staat ist – seit dem Westfälischen Frieden wenigstens idealtypisch – der legitime Monopolist der Staatsgewalt (Militär und Polizei). Mit dem preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780–1831) gesprochen, ist der Krieg »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Er ermöglicht – als »Ultima ratio« (Kriegsgegner würden sagen: »Ultima irratio«) – die Ausübung von direktem Zwang als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen: Staat A zwingt Staat B mit direkter Gewalt dazu, die eigenen Bedingungen anzunehmen.
Imperialismus ist also Gewaltpolitik, aber mit Bertolt Brecht wissen wir von den »Schwierigkeiten, Gewalt zu erkennen«. Wir müssen zwischen direkter und struktureller, offener und latenter Gewalt unterscheiden. Der kriegerische Imperialismus ist letztlich die schwächere, weil offensichtlich brutale und damit widersprüchlichste Form. Das Arsenal des Imperialismus verfügt jedoch über andere, häufig sehr viel effizientere und subtilere Methoden der Interessendurchsetzung, die nicht minder gewaltvoll sind, aber nicht unbedingt so erscheinen.
3.
Das Projekt USA, entstanden aus dem englischen Kolonialismusprojekt des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, war von Beginn an expansionistisch: Auf die siedlerkolonialistische »binnennordamerikanische« Ausdehnung gen Westen und Süden in Folge des »Louisiana Purchase« (1803), die mit der Schließung dieser »American Frontier« in den 1890er Jahren ihr Ende fand, folgte die Ausdehnung über diese »inneren« Grenzen der USA hinaus.
4.
Das siedlerkolonialistische Projekt der USA war von Anfang an kriegerisch, ihr Imperialismus direkt, d. h. militärisch, gewaltförmig. Dazu gehörte der Krieg gegen Mexiko um die Vorherrschaft in Texas (1846–1848). Dazu gehörte vor allem der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern. Dazu gehörte schließlich durchaus auch der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Bei letzterem wurde mit den Mitteln der Gewalt entschieden, welche Produktionsweise – die kapitalistisch-industrielle des Nordens oder die auf Sklavenarbeit basierte Agrarproduktion des Südens – auf das Gebiet des Mittleren Westens bis zu den Rocky Mountains ausgedehnt werden sollte.
5.
Auch die sozialen Verhältnisse in Mittel- und Südamerika waren ursprünglich das Ergebnis imperialistischer und kolonialistischer Politik, beginnend – nach abgeschlossener »Reconquista« – ab 1492 mit der »Conquista« der Karibik, Mittelamerikas und Südamerikas durch die Spanier und später auch durch die Portugiesen. Es ist darum nicht selbstverständlich, dass – und erklärungsbedürftig, warum – die USA in der westlichen Hemisphäre die heutige Rolle spielen und nicht etwa Brasilien, ein ähnlich großer, rohstoffreicher Flächenstaat, der sich, wie der Großteil der südamerikanischen Staaten, auch schon 1822, d. h. nur kurz nach den USA mit ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776, formell unabhängig machte. Ähnliches gilt für Mexiko, das sich nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1810 bis 1822 von Spanien löste.
Die USA wurden der »Coloso del Norte«, wie José Martí sie nannte, weil das Entwicklungsmodell, das dort implementiert wurde, das englische war, während das in Südamerika etablierte dasjenige Spaniens war. England war zum Zeitpunkt seiner Kolonisation Nordamerikas bereits ein kapitalistisches Land, der dortige Kapitalismus schon im ausgehenden 16. Jahrhundert entstanden, und zwar nicht in den Städten, sondern auf dem Land – im Zuge der großen Einhegung und Privatisierung der Allmende, des früheren Gemeindelandes, und der Entstehung einer Klasse der eigentumslosen (Karl Marx: »doppelt freien«) Lohnarbeiter. Die Wirtschaftsstruktur Spaniens und Portugals war hingegen zum Zeitpunkt ihrer Expansionen nach Mittel- und Südamerika noch feudalistisch strukturiert. Während die Engländer in die Kolonien ein kapitalistisches System mit eigener Akkumulationsbasis exportierten, das die Voraussetzungen ökonomischer Selbständigkeit enthielt, die zwischen 1775 und 1783 zum Unabhängigkeitskrieg gegen England führten (gefolgt von dem demokratischen Sozialaufstand der »Shays’ Rebellion« und einem hiergegen gerichteten konservativen Verfassungsgebungsprozess), nutzten Spanien und Portugal den amerikanischen Kontinent allein als Ausbeutungsraum zur Stabilisierung ihrer Herrschaft, für den Luxus ihrer parasitären adeligen Klasse und die Finanzierung ihrer eigenen Militärmacht zum Zweck weiterer kolonialer Eroberungen. Die Wurzeln der Abhängigkeit und Peripherisierung Lateinamerikas sind in diesem Gegensatz zwischen der englischen kapitalistischen und der spanisch-portugiesischen feudalen Kolonisierung zu suchen.
6.
Die Vorgeschichte des US-Imperialismus in Lateinamerika begann bereits mit der Monroe-Doktrin von 1823. Diese Doktrin, benannt nach James Monroe, dem fünften Präsidenten der Vereinigten Staaten, war die Blaupause für die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen in der westlichen Hemisphäre. Dabei war sie zunächst defensiv formuliert. Mit ihr verfolgten die USA, überspitzt formuliert, letztlich das Ziel einer »völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte«, wie der Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt, »Kronjurist des Dritten Reiches«, später formulierte, als er Nazideutschlands Anspruch auf Vorherrschaft in Osteuropa zu behaupten und zu legitimieren suchte.
7.
Die Erklärung der Monroe-Doktrin stand im Zeichen der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege zwischen 1809 und 1825, in deren Folge die heute noch bestehenden souveränen Staaten des Kontinents entstanden. Die USA, die seit ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 einen antikolonialen und antimonarchistischen Anspruch formulierten, der noch in der Formulierung »(making the world ready for) freedom and democracy« aus dem Kalten Krieg widerhallt, verknüpften ihre eigenen Interessen in Süd- und Mittelamerika mit der Ideologie des Antikolonialismus und stellten sich mit ihrer Machtdemonstration gegen Spanien und Portugal scheinbar an die Seite der neuen unabhängigen Republiken in Lateinamerika.
8.
Der US-Imperialismus ist vor diesem Hintergrund von spezifischer Gestalt. Die USA entwickelten einen neuen Imperialismustyp, der von Leo Panitch als »informal empire without colonies«, als »informelles Imperium ohne Kolonien« bezeichnet worden ist. Dieser Typ ist heute die dominante Form des Imperialismus. Seine Dominanz ist der Grund, warum die Diskussion über die verschiedenen Formen imperialistischer Gewaltpolitik – direkt und strukturell, militärisch und nichtmilitärisch usw. – so entscheidend ist. Andernfalls besteht die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen und den Imperialismus für eine historische Epoche zu halten, die in den 1870er Jahren begann und mit dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte (über den deutschen Faschismus und seine Verbündeten Italien, Japan usw.) endete. Der Imperialismus ist jedoch quicklebendig, er hat lediglich und auch nur teilweise seine klassische Erscheinungsform gewechselt.
9.
Der Modus operandi des »neuen Imperialismus« und des »American Empire« besteht darin, eine Abhängigkeit anderer Länder und Gesellschaften zu errichten, ohne sie – wie bis 1945 üblich – auch dauerhaft zu besetzen, sie mit Siedlern zu kolonialisieren und dann – mit oder, wie das revolutionäre Frankreich im Falle Haitis, ohne Staatsbürgerrechte – in den eigenen Staat zu integrieren. Aber wie ist das möglich? Wie lassen sich geographische Räume kontrollieren, ohne in ihnen tatsächlich die Staatsmacht auszuüben? Wenn in diesen fremden Staaten sogar »freie Wahlen« stattfinden und neue, souveräne Regierungen gewählt werden können? Um das zu verstehen, muss man sich den Entstehungsprozess des US-Imperialismus anschauen.
10.
Der US-Imperialismus war nicht immer gänzlich informell. Es gab eine klassische imperialistische Phase der USA, die einsetzte, als mit der »Schließung der Frontier« Mitte der 1890er Jahre die »inneren« Grenzen der Kolonisation überschritten waren. Hierfür stehen insbesondere die US-Regierungen von William McKinley (1897–1901) und Theodore Roosevelt (1901–1909). Roosevelt war unter McKinley stellvertretender Marineminister und löste ihn als Präsident ab, nachdem dieser einem Attentat zum Opfer gefallen war. Gegen Spanien, das gegen Kubas Unabhängigkeitsbestrebungen agierte, führten die USA nach Roosevelts Plänen zwischen 1898 und 1900 einen Krieg. Roosevelt selbst kommandierte die sogenannten Rough Riders. Der siegreiche Krieg gegen Spanien endete mit einer partiellen Kolonisierung. Die USA annektierten die Philippinen, bis dahin eine spanische Kolonie, und sie sicherten sich dazu auch bis heute bestehende Kolonien. Dazu gehört zum einen Guantanamo auf Kuba, das als exterritoriale Folterzentrale in den US-Kriegen im Nahen und Mittleren Osten diente. Und dazu gehört die westpazifische Insel Guam, die als Kolonie bis heute eine strategisch bedeutende Rolle für US-amerikanische Interessen spielt, nämlich als militärische Aufmarschbasis im Kontext der Eindämmungspolitik gegen den Hochtechnologierivalen China.
11.
Als Präsident erweiterte Roosevelt die Monroe-Doktrin von 1823 um Maßgaben für eine offensive Interessenpolitik in Lateinamerika. Dafür steht das »Roosevelt-Corollary« von 1904, dessen Leitmotiv lautete: »Speak softly and carry a big stick; you will go far« (»Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, dann wirst du weit kommen«). Mit diesem Zusatz zur Monroe-Doktrin reagierten die USA auf eine Militärblockade Venezuelas seitens Großbritanniens, Deutschlands und Italiens zwischen Dezember 1902 und Februar 1903. Diese kapitalistischen europäischen Mächte wollten damit Venezuela zur Zahlung von Auslandsschulden zwingen. Der Umgang Washingtons mit der sogenannten Venezuela-Krise legte den Grundstein für den informellen Imperialismus der USA. Sie formulierten zum einen den Anspruch, die wichtigste, ja de facto die einzige militärische »Ordnungsmacht« in der westlichen Hemisphäre zu sein (und verwiesen die europäischen Mächte letztlich auf den afrikanischen Kontinent, den diese nach der Berliner »Kongo-Konferenz« von 1884/85 unter sich aufgeteilt hatten), und zum anderen, die finanziellen Interessen anderer kapitalistischer Mächte notfalls auch militärisch durchzusetzen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt betrachteten die USA Lateinamerika als ihren »Hinterhof«.
12.
Anders als im Falle der Engländer, Franzosen, Belgier, Holländer, Portugiesen und Deutschen in Afrika wandelte sich das Imperialismusmodell der USA. Ihr Imperialismus in der westlichen Hemisphäre zielte nicht auf formelle koloniale Unterwerfung, sondern auf informelle (Vor-)Herrschaft. Begriffen hatte das auch Carl Schmitt, der 1933 mit Bezug auf die USA von den »völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus« schrieb. Als Verfassungsrechtler im Dienste des Krieg und Eroberung vorbereitenden deutschen Faschismus hatte Schmitt ein realistisches Verständnis davon, was diese neuen Formen ausmachte: Es handelte sich um einen konstitutionalistischen Imperialismus. Die USA mochten die Staaten Zentral- und Südamerikas militärisch bedrohen oder unterwerfen, aber sie waren nicht »gekommen, um zu bleiben«, sondern veränderten, als sie wieder abzogen, in der Regel die Verfassungen der jeweiligen Länder zu Gunsten ihrer politischen und vor allem wirtschaftlichen Interessen. Dazu gehörte insbesondere die Durchsetzung einer offenen Wirtschaft zwecks Abfluss und Investition überakkumulierten US-Kapitals. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
13.
Den Übergang zu dieser Form von Politik illustriert das Beispiel des Panamakanalbaus, der nicht nur Zehntausende Arbeiter einer französischen Aktiengesellschaft, die ihn zunächst bauen ließ, das Leben kostete, sondern als wichtigster Binnenschifffahrtsweg nach dem Suezkanal die Transportkosten für Waren auf dem Seewege – nicht zuletzt von der amerikanischen Ost- zur Westküste – stark reduzierte. Nach der Pleite der französischen Aktiengesellschaft erhielt Roosevelt im Jahre 1902 vom US-Kongress das Recht, den Kanal am Isthmus von Panama zu kaufen. Das Parlament Kolumbiens, zu dem das Gebiet damals gehörte, entschied sich jedoch gegen einen Verkauf an die USA, woraufhin man in Washington, wo man ohnehin und aus verständlichen Gründen Nicaragua als Ort des Kanalbaus präferiert hatte, nur zwei Auswege sah: Ein Krieg in Nicaragua zur Durchsetzung des Nicaragua-Plans oder eine Rebellion in Kolumbien, die – nach Vorbild eines Putsches in Hawaii zur Sicherung der weißen Vorherrschaft zehn Jahre zuvor – die USA in die Lage versetzen würde, in Zusammenarbeit mit der lokalen Kompradorenbourgeoisie den Panamakanalbau nach eigenen Interessen voranzutreiben. Der Aufstand erfolgte, und die Putschisten, die sich über den Nicaragua-Plan sorgten, erklärten ihre Region für unabhängig. Ein neuer Staat war geboren: Panama, und die USA hinderten mit entsandten militärischen Truppen die Regierung in Bogotá an der Rückeroberung des abtrünnigen Gebiets. Die USA bekamen ihren Kanal, die Putschisten wurden für ihre Dienste mit Botschafter- und anderen Posten entlohnt, der neue Staat verzichtete vertraglich auf so gut wie alle souveränen Rechte: Steuern, Nutzungsgebühren, sogar territoriale Kontrolle, denn die USA sicherten sich einen 22-Meilen-Korridor entlang des Kanals als ihr Hoheitsgebiet und das Recht, nach eigenem Dafürhalten diese Zone auszuweiten, wie es ihnen gemäß ihrer Interessen am Kanal als sinnvoll erschien. Zudem ließen sie in die Verfassung des neuen Staates das Recht hineinschreiben, jederzeit in Panama einzumarschieren, um die »öffentliche Ruhe und die verfassungsgemäße Ordnung« wiederherzustellen, d. h. die USA sorgten per Rechtsakt für den Status eines abhängigen Satellitenstaats mit stark eingeschränkter Souveränität auf ewig und drei Tage. Dies erfolgte nach dem Vorbild der kubanischen Verfassung im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Krieges. Und schließlich passten die USA ihren Satellitenstaat – auch dies nach dem Vorbild ihres Vorgehens in Kuba und den Philippinen – an die US-Wirtschaft an, indem sie eine Finanzreform erzwangen, die diese Staaten an den Goldstandard banden, ihre Ökonomien für anlagesuchendes US-Kapital öffneten und damit von den USA abhängig machten. Dies nannte man »Dollar-Diplomatie«.
14.
An diesem Modus operandi – kurzfristige Invasionen und Kriege, Putsche und Staatsstreiche, konstitutionelle Umstrukturierungen – hat sich bis heute wenig geändert. Die Muster hinter Kuba 1961 ff., Chile 1973, Grenada 1983, der Iran-Contra-Affäre 1985–1987 bis zu den Putsch- und Invasionsplänen in Venezuela, bei denen Juan Guaidó zum legitimen Präsidenten Venezuelas erklärt wurde, gleichen noch immer der in Panama einstudierten Verfahrensweise. Genauso entscheidend aber ist im Verhältnis der USA zu ihrem Hinterhof die nicht offene, eher latente und subtile Gewaltpolitik.
15.
Der US-Imperialismus operiert häufig informell, aber damit nicht weniger gewaltsam. Wenn Strukturanpassungsprogramme seitens der US-dominierten Weltfinanzorganisationen IWF und Weltbank die Liberalisierung des Handels zu US-Bedingungen und gemäß US-Agrar- und Industriekapitalinteressen, die Privatisierung von Staatseigentum zugunsten von anlagesuchendem US-Kapital und die Deregulierung von Arbeitsmärkten, Umweltauflagen usw. im Interesse der transnationalen Konzerne mit Sitz in den USA (oder Europa) erzwingen (formuliert im Namen der »Wettbewerbsfähigkeit«), dann ist das nicht nur bloß eine Form von Schuldenimperialismus. Er ist auch unmittelbare Gewalt gegenüber den Bevölkerungen Lateinamerikas. Der Drogenkrieg ist hierfür das beste Beispiel: NAFTA und CAFTA haben Dutzende Millionen von Klein- und Subsistenzbauern »gelegt«, d. h. aus Kleineigentümern Proletarier gemacht, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, die sie aber niemals finden können, zumal der Abbau der öffentlichen Beschäftigung im Namen der Wettbewerbsfähigkeit auch diesen Weg versperrt. Wenn Menschen vor die Wahl gestellt werden, entweder im informellen Sektor – Drogen-, Waffen-, Menschenhandel – zu arbeiten oder auf der Suche nach Arbeit und der Flucht vor der fürchterlichen Gewalt in diesem informellen Sektor Zentralamerikas zu fliehen, bloß um dann an der US-amerikanischen Grenze zu sterben, in den USA von der Familie getrennt, in Käfige gesteckt und anschließend abgeschoben oder, wenn man es geschafft hat, in der US-Landwirtschaft als »Illegaler« überausgebeutet zu werden, dann ist das nicht weniger schreckliche Gewalt als jene direkte Form eines offenen Krieges. Ähnliches gilt es über die Sanktions- und Blockadepolitik der USA gegenüber Kuba und Venezuela zu sagen, die etwa mit der Verteuerung von Lebensmitteln oder der Blockade von Medikamentenlieferungen nach Venezuela dazu führt, dass unzählige Menschen mit dem Leben bezahlen. Sanktionen als einen Akt des Krieges zu ächten ist eine der Hauptaufgaben für die Friedensbewegung heute. Dabei kennt diese indirekte Gewaltpolitik in der westlichen Hemisphäre nur einen Ursprung: den Koloss aus dem Norden.
16.
Die Geschichte des Widerstands gegen den US-Imperialismus und des Kampfes um wirtschaftliche Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika ist lang. Nach dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 gab es einen langen Zyklus der mit den Mitteln der Guerilla operierenden nationalen Befreiungsbewegungen. Mit den Wahlsiegen von Linksbündnissen in den 1990er Jahren, dem Sieg der MST in Bolivien, dem Sieg der Bolivarischen Revolution in Venezuela, dem Sieg Rafael Correas in Ecuador und der Gründung von ALBA wurde dieser Zyklus scheinbar von einem neuen Zyklus – dem der Linksregierungen – abgelöst. Das Beispiel Kolumbien zeigt die Erschöpfung des Guerrillakampfes. Die Grenzen des extraktivistischen Entwicklungsmodells und das Scheitern der Periode der linken Regierungen – sowohl der moderaten Unabhängigkeitsbemühungen der Mitte-links-Regierungen und des Mercosur als auch der Bolivarischen Revolution – stürzten die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika in eine tiefe Krise. Die Linke befindet sich, jetzt, da sich das katastrophale Scheitern der Rechten etwa an Jair Bolsonaros (Corona-)Krisenmanagement in Brasilien zeigt, in einem neuen Suchprozess. Mittlerweile gibt es wieder neue und starke soziale Bewegungen – und auch neue Linksregierungen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den jeweiligen Bewegungen für eine verfassunggebende Versammlung, vor allem in Chile. Sie sind vor dem Hintergrund des konstitutionalistischen Charakters des US-Imperialismus bedeutsam. Denn der Weg der Unabhängigkeit, soviel zeigt der US-Imperialismus, geht nicht zuletzt über den Weg der Veränderung der bestehenden Verfassungen in Lateinamerika, in denen der Neoliberalismus als disziplinäres Regime im Interesse des US-Kapitals festgeschrieben steht.
Anmerkung
1 Frank Deppe, Stephan Heidbrink, David Salomon, Stefan Schmalz, Stefan Schoppengerd u. Ingar Solty: Der neue Imperialismus. Distel-Verlag, Heilbronn 2004