Weitere Fragen zu seinem Vermächtnis …
Nachdem wieder ist ein Jahr (vier sind es bereits) seit dem Tod Fidel Castros vergangen ist, wird eine Frage dringlicher, attraktiver, interessanter, problematischer und herausfordender: Wie erinnern wir uns an ihn? Welchen Teil in seinem enormen Werk soll man den Vorrang einräumen, hervorheben, in den Vordergrund stellen? Obwohl vier Jahre eine kurze Zeitspanne sind, reicht sie aus, um viele Umstände der Realität (national und global) – zumindest oberflächlich – von denen zu unterscheiden, die wir mit unserer gemeinsamen Zeit mit Fidel kennen gelernt haben. In einem Fall wie diesem erhebt sich die Frage: Was hat uns Fidel hinterlassen? Mit welchen Teilen seines Werkes stehen wir im Dialog und was sagt es uns, über die Welt, in der wir gerade jetzt leben? Warum soll man sich das fragen?
Soweit ich die Probleme verstehe, die mit dem „lebendigen“ Zustand des Vermächtnisses verbunden sind, (was der Idealzustand in jedem Prozess der Erinnerungsübertragung wäre) glaube ich, dass das oben Gesagte einige Momente enthält, die unbedingt durchlaufen werden müssen. Das Vermächntnis ist ein Gefüge, das gleichzeitig verschiedene Merkmale in sich vereint: ein Archiv exemplarischer/ beispielhafter Verhaltensweisen, eine Reihe von miteinander verflochtenen Ideen und Konzepten, monumentale Präsenz (aufgrund der Dimensionen des Themas oder der Größe des Beitrags) und die Anhäufung von Inhalten symbolischer Natur. Letzteres, weil das Vermächtnis über sich selbst hinausgeht und nicht die Person ausmacht, mit der es am unmittelbarsten verbunden ist, sondern die gesamte Epoche, in der es „entsteht und sich entwickelt“, sowie das Gebiet, in welchem sich „sein“ Leben abspielt. Mit anderen Worten, die Erforschung, Analyse, Lektüre und ganz allgemein die Untersuchung des Vermächtnisses spricht zu uns und beantwortet uns Fragen über die Person, das Land, seine Bewohner, die Zeit, aber auch über alle Bedingungen, unter denen diese Ereignisse stattfanden.
Wenn wir zu Fidel fragen, so tun wir dies auf der Grundlage der obigen Ausführungen, wir tun dies für die Vorfahren unserer Eltern, unsere Eltern, für uns selbst, für jene, die direkt auf uns folgen und auch für die, die in Zeiten kommen, die wir nicht einmal vorhersehen können. Es ist dies eine Frage, die über das Individuum hinausgeht, weil sie die gesamte Bevölkerung umfasst (in Wirklichkeit die Bevölkerung vergangener Epochen, der Gegenwart und der Zukunft) und von dort aus in der eigentlichen Wurzel der Geschicke unseres Landes versinkt. Diesen Zusammenhang zwischen den Zeiten war das, was Fidel selbst verstand und meinte, als er bei einer Gedenkfeier am 10. Oktober 1968 in La Demajagua, anlässlich des hundersten Jahrestag des von Carlos Manuel de Cespedes angeführten Aufstandes, einen Satz sprach, der die Zeiten miteinander verband: „Wir wären damals wie sie gewesen und sie wären heute wie wir !“.
In dieser brillanten Aussage, liegt der Schlüssel für die Verbindung zwischen den Zeiten in der Kontinuität dessen, was Fidel „den revolutionären Geist unseres Volkes“ und „die in jedem Moment anstehende Aufgabe“ nennt. Diese über die Zeiten reichende Verbindung ist nichts Mystisches, wird nicht durch irgendeine mystische Essenz bestimmt, sondern ist das Produkt einer Bewegung des sozialen Bewusstseins, wie es aus der folgenden Idee hervorgeht: „Unser revolutionäres Denken entwickelte sich in einem langen Prozess“. Für den politischen Denker, der diesen Diskurs vertritt, ist es nicht nur wichtig, den Weg der Kontinuität zwischen den verschiedenen Aktionspunkten des revolutionären Geistes nachzuzeichnen („Wir müssen sagen, dass der Kampf sich in einem anderen Maßstab und unter anderen Bedingungen wiederholt“ sagt er bei einer anderen Gelegenheit) sondern er warnt auch vor einigen Versuchungen, Abweichungen oder Brüchen, die dazu führen könnten, die Vergangenheit zu vergessen:
„Es ist möglich, dass die Unwissenheit der heutigen Generation oder die Vergesslichkeit der heutigen Generation oder die Euphorie über die gegenwärtigen Erfolge dazu führen können, das unser Volk unterschätzt, wie viel es ihnen schuldet, wie viel unser Volk diesen Kämpfern schuldet“.
Unter diesem Blickwinkel bedingt die Existenz, die Aufnahme und die Bewahrung des Vermächtnisses die Entstehung oder den Aufbau einer Beziehung der Freundschaft und des Dialogs mit der Erinnerung, denn das Erinnern ist Teil des Wesens und der Identität des revolutionären Subjekts, Teil der Nation. Diese politische Erinnerung ist ein komplexer Prozess, in dem uns der Gang in die Vergangenheit einen langen Prozess des Scheiterns, der Schmerzen und der kleinen Erfolge des revolutionären Geistes vor Augen führt. In philosophischer Hinsicht eine lange Reise zur Begegnung mit der Freiheit, die uns in einem Übergang präsentiert wird, innerhalb dessen „sie“ (die revolutionären Kämpfer der verschiedenen Momente der Geschichte, in geordneter Reihenfolge):
„… die bittersten Getränke schlucken mussten: den bitteren Trank von Zanjón, die Einstellung des Kampfes von 1878, den ganz bitteren Trank der Yankee Invasion, der sehr bittere Trank der Umwandlung dieses Landes in eine Fabrik und einen strategischen Brückenkopf – wie Martí es befürchtet hatte-, der ganz bittere Trank die Opportunisten, die korrupten Politiker, die Feinde der Revolution, die Verbündeten der Imperialisten das Land regieren zu sehen. Sie mussten diese ganz bittere Erfahrung machen, einen Yankee Botschafter das Land regieren zu sehen oder zu sehen, wie ein unverschämter Yankee Beamter in einem Schlachtschiff in der Bucht von Havanna vor Anker ging, um aller Welt Anweisungen zu geben: den Ministern, der Armeeführung, dem Präsidenten, dem Repräsentantenhaus, dem Senat“.
All diesen Erfahrungen, deren gemeinsamer Nenner in all dieser Zeit die die Anti-Freiheit und die Anti-Nationalität waren, stellt Fidel die Kämpfe anderer Art entgegen, die dann die Gegenwart berühren. Dazu gehören , vielleicht am wichtigsten, „die Kämpfe auf dem Feld der Ideologie“, „die Erfahrungen des revolutionären Prozesses“, „die Konfrontation mit dem Yankee Imperialismus“ und „seinen Blockaden, seiner Feindseligkeit, seiner diffamierenden Kampagnen gegen die Revolution“ und schließlich „ sich dem kolossalen Problem der Unterentwicklung zu stellen“.
Mit dem Vermächtnis umzugehen und sich damit auseinanderzusetzen, bedeutet, sowohl die Frage über die Geschichte zu stellen (d.h unsere Vergangenheit, die Kampfbedingungen und die Entwickung des „revolutionären Geistes“ von dem Fidel spricht), als auch die Fragestellung in ihrer Intensität und ihren Zusammenhängen als Teil der Geschichte zu reproduzieren, die – mit unserer Beteiligung und um uns herum- heute, in diesem Augenblick fabriziert wird. Wie viel bleibt in diesem Zusammenhang von den Fragen, Leitlinien, Empfehlungen, Beispielen, moralischen Positionen, Bedenken, Fragen, theoretischen Konzepten, die Fidel uns hinterließ, erhalten? Wie können wir es verstehen, wenn wir nicht gleichzeitig die Realität, in der wir uns befinden, fragen, wie viel von der Polarität zwischen dem Willen zur nationalen Unabhängigkeit, Souveränität und nationalen Autonomie im Widerstand gegen die imperiale Gefräßigkeit oder die impliziten und expliziten Vorschläge zur Restauration und politisch-ökonomischen Wiedereroberung des kubanischen Landes überlebt hat? Können wir Erinnerung und Identität trennen? Was passiert, wenn wir aufhören zu wissen- erkennen, wer wir waren- wer wir sind?
Wie können wir diese Bitte verstehen, dass keine Institution, keine Schule, keine Fabrik oder Straße seinen Namen tragen soll, wenn nicht in linearem Zusammenhang mit den folgenden Worten Martís in seinem Abschiedsbrief an seinen Freund Manuel Mercado vom 18. Mai 1895? : „Ich weiß, dass ich vergehe. Aber mein Denken wird nicht vergehen und die Dunkelheit grämt mich nicht. Sobald wir uns formiert haben werden wir handeln, um mein Versprechen oder das anderer zu erfüllen“. Ist dies nicht derselbe innere Schauder, der die Flamme der „revolutionären Energie“ in ihrem Wunsch nach Veränderung entfacht? Ein Bild, das an das von Martí in seiner Rede erinnert, die er am 10. Oktober 1887 im Freimaurertempel in New York zur Erinnerung an die Erhebung von Cépedes hielt, als er von einem „Feuer“ sprach, das „ nicht sterben kann“.
Das Vermächtnis besteht aus einer schier unermesslichen Zahl von Analysen, Beschlüssen, Berechnungen zu verschiedenen Zeitpunkten des nationalen Lebens in weit mehr als den Jahrzehnten des politischen Handelns der Person, die es verkörpert. Es ist eine Art Kontraktionspunkt von Raum und Zeit, eine Begrenzung am Rande der Zukunft, die zur Selbstüberprüfung aufruft. Wir können nur vorankommen, wenn wir uns selbst in ihm deuten, seine Fragestellungen annehmen und sie für die Bedingungen der Gegenwart neu konfigurieren und wenn wir wirklich den gewagten Sprung zwischen den Zeiten wagen: mit diesen Idealen die wir haben, die Zukunft zu gestalten.
http://de.granma.cu/cuba/2020-11-25/weitere-fragen-zu-seinem-vermachtnis