In den »befreiten Gebieten«
Kolumbien: Besuch bei der ältesten Guerilla der Welt, der »Nationalen Befreiungsarmee« (ELN) im Catatumbo
Von Unai Aranzadi
»In Kolumbien hält sich die Guerilla normalerweise weitab vom Schuss auf, während die Armee die Straßen und Dörfer kontrolliert. Hier im Catatumbo ist es genau umgekehrt: Die Armee unterhält versteckte Kommandos, während wir Guerilleros die Straßen und Dörfer kontrollieren.« Das erzählt ein Kämpfer der »Nationalen Befreiungsarmee« (ELN), der bewaffnet und uniformiert am Steuer eines nagelneuen Geländewagens sitzt. Wir fahren nicht auf einer schlammigen Piste, sondern entlang einer Straße, die die Gemeinde Convención mit Tibú verbindet, das bereits an der Grenze zu Venezuela liegt.
Um hierherzugelangen, muss man einen Kontrollpunkt der Armee passieren. Die weiß genau, was auf der anderen Seite wartet: Gemeinden und Straßen in der Hand der Guerilla. Der Checkpoint, der immer wieder von Scharfschützen der ELN angegriffen wird, befindet sich am Rande des Stützpunktes »Esmeralda«. Auf der anderen Seite beginnen die »befreiten Gebiete«, wie es im Sprachgebrauch der ELN heißt. »Wohin geht’s? Einen Guerillero interviewen?« fragt mich der befehlshabende Sergeant. »Besser, ich notiere mir Ihren Namen, und Sie sagen mir, in wie vielen Tagen Sie zurückkommen wollen. Nicht, dass Ihr Besuch mit einer Entführung endet.« Während er sein Gewehr zurechtrückt, schreibt er die Daten aus meinem Reisepass in ein Heft, das auf einer Munitionskiste auf mehreren Sandsäcken liegt.
»Hier in Convención ist der Krieg stark spürbar. Vor drei Tagen hat ein Scharfschütze den Unteroffizier Palacios getötet«, klagt der Sergeant resigniert. Der Verlust eines Kameraden ist Alltag in dem Krieg, der schon als beendet gegolten hatte. Nachdem der Kontrollpunkt passiert ist, führt die Straße in den Bezirk Teorama. Hier wachen Guerilleros in Zivil darüber, wer ankommt und wer abreist.
Sichtbare Präsenz
Das erste Dorf, das sich in den Händen der Guerilla befindet, ist San Pablo an der Straße nach Tibú. Vor dem Überqueren der Brücke, die zum Zentrum führt, hängt unübersehbar ein großes Plakat mit den Bildern der wohl legendärsten Priester der südamerikanischen Revolutionen: des Kolumbianers Camilo Torres Restrepo und des Spaniers Manuel Pérez Martínez. Dazu zwei Zitate: »Die Pflicht eines jeden Christen ist es, ein Revolutionär zu sein, die Pflicht eines jeden Revolutionärs, die Revolution voranzutreiben« von Camilo Torres und »Solange die Sonne nicht erlischt, heute und für immer, werden wir für die Würde unserer Völker kämpfen« von Manuel Pérez. In der Mitte des Schildes prangt das Logo der ELN.
Das Plakat hängt hier seit Monaten. Offiziell sind in diesem Gebiet keine staatlichen Kräfte präsent, es gibt weder Kasernen noch Kontrollpunkte noch Polizeistationen. Aber wer gibt dann die Gesetze vor und verwaltet das Recht? Laut einer Gruppe von Nachbarn, die vor der Kirche stehen, ist es das Kommunale Aktionskomitee, das für die Lösung von Konflikten zuständig ist. »Wenn etwas Schlimmes passiert, zum Beispiel eine Vergewaltigung oder ein Mord, nimmt die Guerilla den mutmaßlichen Täter fest, und dann entscheidet die Vermittlergruppe des Aktionskomitees, was mit dieser Person zu tun ist.« Allerdings mit Einschränkungen: »Das ist zumindest in der Theorie so, denn oft handelt die Guerilla auch direkt, vor allem wenn die Geschädigten aus ihren Reihen kommen.«
Im Zentrum von San Pablo liegen zahlreiche Geschäfte, Restaurants und drei Hotels, von denen zwei neu sind und über WLAN, eine Klimaanlage und Kabelfernsehen verfügen. Es gibt auch eine medizinische Ambulanz, an die allerdings niemand auf dem Platz gute Erinnerungen hat. »Der Staat hat sich hier nie wirklich für die öffentliche Gesundheit eingesetzt. Diejenigen unter uns, die von hier kommen, haben schlechte Erinnerungen an diese Ambulanz. Wenn du Zahnschmerzen oder Karies hattest, hat der Arzt gleich den ganzen Zahn gezogen. Und wenn du etwas Ernstes hattest, haben sie dir ein Pillchen gegeben und dich nach Hause geschickt. Es war der gewohnte Gang der Dinge, dass Menschen ohne Behandlung sterben. Deshalb wurde die Guerilla in Regionen wie dieser immer willkommen geheißen. Sie hörten uns wenigstens zu, sagten, dass sie die Dinge ändern wollten, und brachten sogar Ärzte mit. Wobei das mit den vielen Gefechten jetzt auch wieder weniger geworden ist.«
Der Sonntag ist der einzige Tag der Woche, an dem sich die Bewohner von San Pablo ausruhen und amüsieren können. In ohrenbetäubender Lautstärke dröhnen aus den Boxen der Bars und Diskotheken Corridos und Vallenatos. Zwischen den Terrassen, auf denen Bier getrunken wird, tauchen Kinder auf, die die Besucher um etwas Geld anbetteln. Sie gehören zu den Barí-Indigenen, stammen also von jenen ab, die vor 500 Jahren zunächst gegen die spanischen Eroberer und dann gegen deren kreolische Nachkommen Widerstand leisteten.
Älteste Guerilla der Welt
Die ELN ist heute die älteste Guerilla der Welt. Sie wurde am 4. Juli 1964 gegründet und hat Höhen und Tiefen durchlebt. Gegenwärtig wird geschätzt, dass sie mehr als 4.000 Bewaffnete haben könnte, jedoch ist es unmöglich, eine genaue Zahl zu nennen. Die Guerilla, die unter dem Eindruck der Kubanischen Revolution gegründet wurde und deren Ideologie marxistisch geprägt ist, ist seit Jahrzehnten mit der christlichen Befreiungstheologie verbunden. Aktuell befinden sich mehrere ihrer Anführer in Kuba, ohne nach Kolumbien zurückkehren zu können. Die derzeitige Regierung des rechten Präsidenten Iván Duque hat die Friedensverhandlungen abgebrochen, die in Havanna 2016 unter dessen Vorgänger Juan Manuel Santos begonnen worden waren.
Die ELN ist dennoch entschlossen, weiter auf Dialog zu setzen – wie es auch mehrere Parteien, Dutzende soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Bauernorganisationen fordern, die der durch die Gewalt vergrößerten Ungleichheit ein Ende setzen wollen. Die im Catatumbo anwesenden Guerilleros sind offen, ihren Standpunkt zu erklären und Fragen zu beantworten. Die hier operierende Front trägt den Namen von Comandante Manuel Pérez Martínez, des spanischen Priesters, der bis zu seinem Tod an Hepatitis 1998 der herausragendste Stratege der ELN war.
Koka wächst immer
Um an den Ort zu kommen, an dem man mit mir sprechen will, muss zunächst der mächtige Catatumbo-Fluss überquert werden. Da es keine Brücken gibt – zumindest keine ohne Militärpräsenz –, wird er an Bord von Geländefahrzeugen überquert. Wir folgen der Straße und kommen in die Vororte von San Pablo, San Juancito oder Mundo Nuevo. Auch hier sind wieder Plakate, Graffiti, Wandmalereien und Aufkleber mit Motiven und Logos der ELN unübersehbar. In den Orten gibt es mehrere Checkpoints, die jedoch nicht von der Guerilla – diese beobachtet ruhig aus dem Verborgenen heraus –, sondern von Zivilisten besetzt sind, die für die Benutzung ihrer Straßen ein paar Pesos verlangen. Die Frau, die den Schlagbaum öffnet, erklärt: »Wir verlangen 3.000 Pesos (rund 67 Cent, jW), weil der Staat uns keine Straßen gebaut hat. Wir sind es, die die Straße verwalten und reparieren oder sie bei Erdrutschen räumen.«
Entlang der Strecke liegen Kokaplantagen. Auch unter Planen verborgene Benzinkanister sind zu sehen, welche für die »Küchen« benötigt werden, in denen Kokablätter zu Kokain weiterverarbeitet werden. Obwohl Regenzeit ist, hat es kaum geregnet, die Pflanzen sind klein und ihre Blätter kurz. Ein Bauer erklärt mit jedoch: »Das ist eine sehr resistente Pflanze. Sie übersteht sowohl Dürre als auch Regen. Das ist der Grund dafür, dass wir keine Bohnen, Kaffee oder Yuca anpflanzen, sondern auf Koka umgestiegen sind. Um guten Kakao oder Kaffee ernten zu können, muss extrem viel investiert werden. Koka ist preiswerter und wächst immer.«
Fast alle hier sind Siedler, durch den Konflikt Vertriebene, von Landbesitzern Verbannte und einfache Glücksritter, die in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren hierherzogen – und auch heute noch. Viele derjenigen, die vor einigen Jahrzehnten ankamen, leiden noch immer unter den paramilitärischen Angriffen seit den 1990er Jahren. Unter den Dutzenden von Massakern, die Menschenrechtsorganisationen dokumentiert haben, sticht besonders das Massaker von La Gabarra hervor, bei dem das gegen die Guerilla eingesetzte 46. Armeebataillon mit den inzwischen demobilisierten AUC (Vereinigte Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens) zusammenarbeitete. 43 Zivilisten wurden mit Schusswaffen, Äxten und Kettensägen umgebracht.
Einer der Siedler, der seit mehr als 30 Jahren als Bauer in diesem Dorf lebt, erinnert sich: »Unabhängig von den Massakern töteten sie die von ihnen Verdächtigten einzeln. Die Frauen wurden kahlrasiert, ihnen wurden die Brustwarzen abgeschnitten. Selbst ganz kleine Kinder wurden getötet. Die Täter waren keine Menschen, sie waren schlimmer als der Teufel, und sie kamen immer, wenn sich die Armee zurückzog. Nach einer Weile haben wir das verstanden. Wenn die Armee ein Dorf verließ, wussten wir, dass bald die Paracos (Paramilitärs, jW) kommen würden. Das war der schlimmste Terror, den der Catatumbo je erlebt hat.«
Nachdem wir am Dorf Santa Inés vorbeigefahren sind und etwas an Höhe gewonnen haben, erwartet uns eine Kolonne der Guerilla, darunter nicht nur Einheiten der »Frente Manuel Pérez Martínez«, sondern auch der historischen »Frente Camilo Torres«. Die Kämpfer sitzen am Straßenrand, einige von ihnen in Zivil gekleidet, mit Uzis und anderen leichten Waffen. Andere tragen T-Shirts, die an das revolutionäre Christentum erinnern. »Die meisten Guerilleros glauben an Gott und betrachten sich als Katholiken.« Ein anderer fügt hinzu: »Auch wenn es heute viele evangelikale Kirchen in der Region gibt, wir bleiben katholisch, auch wenn das natürlich etwas ist, worüber jeder ELN-Angehörige selbst entscheiden muss.«
Auf die Kokaplantagen entlang der Route angesprochen, bestreiten sie jede Verbindung mit dem Kokageschäft: »Die Welt muss wissen, dass Koka die einzige Möglichkeit für diese Bauern ist, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir können ihnen nicht verbieten, zu arbeiten. Das einzige, was wir tun, ist eine Steuer zu erheben, aber wir handeln nicht mit Koka.«
Obwohl es im Krieg mit dem Staat täglich zu Konfrontationen kommt, bestehen die Mitglieder dieser »Frente« darauf, dass Frieden möglich ist. »Wir hoffen darauf, dass der Dialog zwischen unserer Delegation und der Regierung Duque wiederaufgenommen wird«, erklären sie im Chor. »Wir wollen einen Ausweg aus dem bewaffneten Konflikt, der auch die Probleme der Menschen lösen wird. Bedingungslos werden wir die Waffen aber nicht niederlegen. Das gilt um so mehr, wenn wir sehen, was nach der Unterzeichnung des Abkommens mit den FARC-EP passiert ist. Der Staat hat sich nicht nur an keine der Vereinbarungen gehalten, sondern bringt die Exguerilleros sogar um.«
Einige der Kämpfer tragen Präzisionsgewehre mit Zielfernrohren. Einer von ihnen, Alexander, erklärt, wie die Guerilla arbeitet: »Der Krieg im Catatumbo wird vor allem mit Scharfschützen geführt. Wir setzen auch Sprengstoff und Minen ein, wobei wir immer versuchen, einen Hauptmann und nicht einen einfachen Soldaten zu treffen. Aber auch die Armee ist nicht untätig. Wenn sie jemandem in unserem Territorium die Kehle mit einer Kugel durchtrennen, druckt das keine Zeitung. Aber wenn wir ihnen Schaden zufügen, erscheint das überall als Nachricht, und man nennt uns Terroristen.«
Zivilisten im Kreuzfeuer
Der Catatumbo-Nationalpark, dessen riesige Fläche gleich hinter dem Hügel, auf dem wir uns befinden, beginnt, grenzt an die ebenfalls dichte Serranía del Perijá, deren westliche Seite nach Venezuela abfällt. Dahinter liegen La Guajira und das Karibische Meer, was dieses riesige Territorium zu einem idealen Ort für das Überleben einer Guerilla macht. So sehr, dass sich auch Teile der ehemaligen FARC-EP hier neu organisieren, genauer: die »Frente 33«. Die versucht, den verlorengegangenen Raum zurückzugewinnen, nachdem sie ihre Waffen 2016 abgegeben hat.
Laut Comandante Wilser von der ELN »gibt es ein kleines Problem mit ihnen, weil uns nicht klar ist, wer dort das Sagen hat. Im Moment verstehen wir uns aber gut.« Als Beweis dafür flattert ein großes Plakat über der Hauptstraße von San Pablo. Dort hängt es seit Monaten, ohne dass es angerührt worden wäre. »Der Erfolg im Leben besteht nicht darin, immer zu gewinnen, sondern darin, niemals aufzugeben. Die Frente 33 der FARC-EP wünscht Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches Jahr 2020.«
Anders das Verhältnis zu den letzten Überbleibseln der »Volksbefreiungsarmee« (PLA). Teile dieser einst maoistischen Guerilla verbündeten sich nach ihrer offiziellen Demobilisierung 1991 mit einigen in den Drogenhandel verstrickten und paramilitärischen Gruppen. Hier im Catatumbo befinden sich die »Pelusos« genannten Kämpfer seit März 2018 im offenen Krieg mit der ELN. »Vor ein oder zwei Jahren töteten die Pelusos in Convención bis zu sechs Menschen am Tag. Heute gibt es zwar noch ein paar hier in der Gegend, den Großteil haben wir allerdings vertreiben können.«
Der Weg aus den »befreiten Zonen« heraus führt durch das Dorf El Aserrío – einen für die ELN wichtigen Ort. Hier befindet sich eine der Kirchen, in denen ihr Anführer Manuel Pérez Martínez Messen abhielt. Außerdem konnte die Guerilla hier vor vier Jahren einen »Black-Hawk«-Hubschrauber der kolumbianischen Armee abschießen. Kriegserfolge, die sich jedoch nicht in Verbesserungen für die Bevölkerung, die im Kreuzfeuer lebt, niederschlagen. Vom Staat und seinen paramilitärischen Verbündeten als »innere Feinde« angesehen, sind die einfachen Zivilisten, die über keinerlei Verbindung zu den bewaffneten Akteuren verfügen, regelmäßig Opfer von Attentaten oder Entführungen. Nach Angaben des Instituts für Friedens- und Entwicklungsstudien sind in diesem Jahr bereits 246 Sozialaktivisten ermordet worden. Obwohl Jahr für Jahr vom Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen angeprangert, hat die Zahl seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen dem Staat und den FARC-EP sogar noch zugenommen. Mittlerweile ist Kolumbien das Land mit den meisten Morden an Aktivisten weltweit.
Auf dem Weg zurück zum Armeekontrollpunkt, über den wir vor Tagen die »befreiten Gebiete« betreten haben, werden es immer weniger uniformierte Guerilleros, und junge Leute mit Kurzwaffen beherrschen die Szenerie. Als ich mich bereits in einem öffentlichen Bus befinde, verabschieden sich die ELN-Mitglieder mit einem Ratschlag: »Wenn Sie oben ankommen und die Soldaten Sie über uns ausfragen, machen Sie sich keine Sorgen. Die wissen bereits, wie es hier unten aussieht.« Nachdem das gesagt ist, verschwinden sie in der Menge von Menschen, die in der Innenstadt von San Pablo Besorgungen machen. Zwanzig Minuten später komme ich an den Militärkontrollpunkt, an einer Grenze, deren Existenz der Staat niemals anerkennen wird. Bei meinem Eintreffen kontrollieren Soldaten gerade die Habseligkeiten von zwei Indigenen und einem Bauern. Auch nach 500 Jahren ist die Eroberung des Catatumbo noch nicht abgeschlossen.
Mit Fotos: https://www.jungewelt.de/artikel/386842.nationale-befreiungsarmee-eln-in-den-befreiten-gebieten.html