Repression und Lügen
Boliviens Putschistenregime geht brutal gegen Protestierende vor. Morales und weitere MAS-Politiker wegen »Terrorismus« und »Genozids« angeklagt
Von Frederic Schnatterer
Die Spannungen in Bolivien nehmen auch in der zweiten Woche des Generalstreiks weiter zu. Während die vom Gewerkschaftsverband COB und sozialen Bewegungen mobilisierten Demonstranten die Straßenblockaden im ganzen Land trotz Angriffen aufrechterhalten, verschärft die Putschregierung ihre Gangart gegenüber den Protestierenden. Seit Montag vergangener Woche blockieren Gewerkschafter und Indigene Dutzende Straßen in verschiedenen Departamentos des Landes, um für die Einhaltung des Wahltermins am 6. September zu demonstrieren. Unter Verweis auf die Pandemielage hatte das Oberste Wahlgericht (TSE) die – ursprünglich für den 3. Mai geplanten – Präsidenten- und Parlamentswahlen ein weiteres Mal verschoben, auf den 18. Oktober.
Wie der multinationale TV-Sender Telesur online berichtete, habe es am Montag (Ortszeit) an mehreren Blockaden Angriffe von Polizei und Armee auf Demonstranten gegeben, unter anderem in El Alto, Cochabamba und La Paz. Die argentinische Tageszeitung Página/12 meldete zudem Attacken von paramilitärischen Kräften wie »Resistencia Juvenil Cochala« sowie »Jóvenes Cruceñistas de Santa Cruz«, die unter dem Kommando von Luis Fernando Camacho stehen. Camacho spielte eine zentrale Rolle beim Staatsstreich gegen Präsident Evo Morales im November 2019.
Die Repression wird begleitet von Diskreditierungs- und Lügenkampagnen. In einem Brief unter anderem an die Vereinten Nationen und die Europäische Union, aus dem die bolivianische Nachrichtenagentur ABI am Montag zitierte, beschwert sich De-facto-Außenministerin Karen Longaric, die Situation im Land habe sich infolge der Straßenblockaden »drastisch verschlechtert« und ein »unhaltbares Niveau« erreicht. So würden Städte von der Lebensmittel- und Coronapatienten von der Sauerstoffversorgung abgeschnitten. In der Folge sei es zu Toten gekommen.
Berichte unabhängiger Medien sowie Videos in den sogenannten sozialen Medien lassen jedoch mindestens Zweifel an der Darstellung der Putschregierung aufkommen. Beispielsweise in mehreren Beiträgen des Senders Radio Kawsachun Coca auf Twitter ist zu sehen, wie mit Sauerstoffflaschen beladene Lastwagen sowie andere für den Transport medizinischer Güter genutzte Fahrzeuge problemlos Straßenblockaden passieren. Dennoch inszenierte die De-facto-Regierung am Montag eine »Karawane für das Leben«, bei der insgesamt 66 Tonnen flüssiger Sauerstoff unter Polizei- und Militärschutz von Santa Cruz nach Cochabamba und weiter nach La Paz gefahren wurden.
Dessen ungeachtet sieht sich Morales, der in Argentinien im Exil lebt, mit einem weiteren Strafverfahren konfrontiert. Wie die spanische Nachrichtenagentur Europa Press berichtete, erklärte der De-facto-Justizminister Álvaro Coimbra am Sonntag, Morales werde wegen »Genozids« und »Terrorismus« angeklagt, da er hinter den Mobilisierungen stecke. Auch das Kandidatenduo der ehemaligen Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) für die Präsidentschaftswahl, Luis Arce und David Choquehuanca, sowie der COB-Vorsitzende Juan Carlos Huarachi werden für die behaupteten Folgen der Straßenblockaden verantwortlich gemacht.
Unterdessen rief Morales am Montag die hinter dem Generalstreik und den Blockaden stehenden Organisationen dazu auf, ein Angebot des TSE in Betracht zu ziehen. Über Twitter veröffentlichte der ehemalige Staatschef eine »Absichtserklärung« des Wahlgerichts, in der der 18. Oktober als »definitiver, nicht aufschiebbarer und unverrückbarer« Wahltermin bezeichnet wird, was zudem durch die Verabschiedung eines Gesetzes garantiert werden solle. Das Dokument war am Sonntag von Vertretern des TSE und sozialen Organisationen unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen aufgesetzt worden.
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