Lateinamerika: Die sozialen Bewegungen in Zeiten der globalen präventiven Konterrevolution
Die argentinisch-kubanische Intellektuelle Isabel Rauber über die Herausforderungen für die sozialen Bewegungen und fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas
Von Isabel Rauber
Übersetzung: Klaus E. Lehmann
amerika21
Die Globalisierung verändert ihr Gesicht
Die örtliche, regionale und globale Realität, in der wir uns befinden, scheint oft erstaunlich, überraschend und sorgt sogar für Verwirrung.
Zwölf Jahre nach dem „Nein zu Alca“1 wird offensichtlich, dass die Unterlegenen von damals ihre Kräfte wieder erlangt und ihre Strategie aktualisiert haben und dabei sind, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen ‒ ihnen selbst zufolge „für immer“.
Dies entspricht raschen und zur gegebenen Zeit unmerklichen Veränderungen der globalen Organisation des Kapitals im Interesse der Durchsetzung, Sicherung und Festigung seiner ökonomischen, kulturellen und politischen Hegemonie auf dem gesamten Planeten. Bei dieser Aufgabe kommen verschiedene Sektoren des großen Finanz-, Technologie-, Pharmazie- und Bankenkapitals sowie des militärisch-industriellen Komplexes und die großen Massenkommunikationsmedien zusammen. Sie haben das Räderwerk ihrer Dominanz perfektioniert, die Maske wurde fallen gelassen und die trügerische Periode des angeblichen „Endes der Ideologien“ und des „wir sind doch alle gute Freunde“ hat sich in einen Zustand des globalen Krieges gewandelt. Dies löst Stück für Stück die historisch erworbenen Bürgerrechte auf und verändert die Grundbedingungen und die Existenzweise der Demokratien. Das geschieht nicht auf „komische“ oder zufällig Weise. Es entspricht einem gut ausgearbeiteten Plan, der auf der globalen Machtstrategie eines „Präventivkrieges“ beruht, die neue „Feinde“ ausmacht, aufbaut oder potenziert, deren Bekämpfung die Rechtfertigung zur Durchsetzung notwendiger Transformationen im juristisch-politischen Bereich der Demokratien liefert, um die Welt unter Kontrolle zu halten. Die Kriege, die Einmischungen jeder Art und die Destabilisierung von Regierungen, die Kriminalisierung jeglichen Widerstands – sei er individuell oder kollektiv – gegen diese „neue Weltordnung“, sind der Auftakt für das Agieren der Motoren für die Plünderung, Herrschaft und Hegemonie der Macht des Kapitals über den Rest der Menschheit. Die Globalisierung hat sich in ihrem Inneren verändert und zeigt nun in der Anwendung ihrer Strategie einer präventiven weltweiten Konterrevolution ihr aggressives, grausames Gesicht. Um damit voranzukommen, müssen die Machthaber ihre Absichten zumindest in einer ersten Phase verbergen und eine Art mentaler Nischen von Akzeptanz und Annahme ihrer Vorstellungen. Wie? Hauptwerkzeuge dabei sind die Massenkommunikationsmedien, die Sozialen Netzwerken und die ihnen nahestehende Intellektuellen. Heute sind die mächtigsten Mechanismen der globalen Manipulation (sozial und individuell) „geölt“ und aktiv; sie sind in der Lage, wenn nötig, gesellschaftliche Entwicklungen zu untergraben und an die Interventionsbedürfnisse der Mächtigen anzupassen, damit diese ihre Ziele erreichen. Faktoren wie die (von ihnen selbst geförderte) Korruption, der unkontrollierte Drogenhandel, das organisierte Verbrechen, der Terrorismus, die Vorbeugung von Naturkatastrophen, all dies sind Schlüsselelemente dieses komplexen Getriebes von Selbstrechtfertigung des Interventionismus und sozialer und individueller Kontrolle seitens der globalen Macht mittels ihrer lokalen Agenten oder im Bündnis mit ihnen.
Andererseits kommt die Verwirrung oder Desorientierung, die diese Realität in einigen Bereichen der (parteigebundenen, intellektuellen oder gesellschaftlichen) Linken in Lateinamerika hervorruft, zusammen mit dem Zerplatzen alter Paradigmen bezüglich des Kapitalismus, der sozialen Revolutionen, des Sozialismus, der Subjekte, der Politik … Diese Konzepte sind, wie jetzt offensichtlich ist, im zwanzigsten Jahrhundert stecken geblieben und reagierten auf die Moderne, die sie hervorgebracht hatte, über ihre historischen Zeit hinaus. Das binäre Denken, die linearen, einfachen und einseitigen Sichtweisen bezüglich der gesellschaftlichen Prozesse haben einen Determinismus geprägt, der sich weigerte (und dies in gewissem Maße immer noch tut,) die Komplexität der Welt zu sehen, zu erkennen und zu begreifen; das heißt, die gleichzeitige und ineinandergreifende Gegenüberstellung verschiedener Dimensionen, die das gesellschaftliche Geschehen in jedem Moment bestimmen, entsprechend dem Zustand der Faktoren (Realitäten, Prozesse, Subjekte) der miteinander verflochtenen Dimensionen. Die Dialektik des 21. Jahrhunderts oder die „Theorie der Komplexität“ ermöglicht einen Blick auf die Welt und ein Verständnis der aktuellen Dimensionen, auf deren Kenntnis bestimmte Handlungen der Macht beruhen. Weiteres Handeln ist nicht möglich, ohne dies zu beachten.
Der kulturelle Wandel im popularen, fortschrittlichen oder linken Bereich ist unabdingbar
Der so häufig geforderte kulturelle Wandel setzt sich durch. Aber er ist kein Flickwerk; es genügt nicht ein Buch zu lesen, ein Stadtviertel oder eine Gemeinde zu besuchen… Er ist verankert in neuen Praktiken, in Debatten mit den vielfältigen handelnden Subjekten, vor allem um zuzuhören; und in kritischen Studien der historischen und jüngeren Erfahrungen der sozialen-politischen Bewegungen, welche die politischen Verhältnisse herbeigeführt und ermöglicht haben, dass populare und fortschrittliche Sektoren oder sogar Vertreter der indigenen, gewerkschaftlichen Bewegungen, der Bauern und der Frauen selbst an die Regierung gekommen sind. Wie es zum Beispiel im revolutionären demokratischen Prozess in Bolivien geschehen ist. Er hat der Gründung des ersten Plurinationalen Staates Unseres Amerika den Weg geöffnet und ist verankert in einem grundlegenden Prozess demokratischer Revolution und interkulturellen Dekolonisierung.
Es ist jedoch eine Sache, Empfehlungen zu lesen und auszudrücken ‒ und eine andere, diese anzunehmen und bei jeder Aktivität, an der man teilnimmt, in neuen politischen Praktiken der Organisierung und des täglichen Zusammenlebens zu entwickeln. Bewusste, absichtsvolle und zeitgleiche Anstrengung zum Abbau alter Paradigmen, die heute große Scheuklappen sind, ist nötig; das Verständnis für das Neue zu öffnen, und für das, was sich von unten her entwickelt: die gemeinschaftlichen Erfahrungen von Leben und Zusammenhängen, das alternative wirtschaftlich-produktive Schaffen der Völker, die dabei sind, eine neue Zivilisation zu entwickeln, auch wenn sie sicherlich aufgrund ihrer Fragmentierung und Isolierung noch sehr begrenzt ist.
Solange die Politik sich aufgrund des Konfliktes zwischen sozialen Kräften mit unterschiedlichen Interessen entwickelt, wobei eine jede die Differenzen in den verschiedenen Bereichen, in denen sie sich gegenüber stehen, zu ihren Gunsten zu entscheiden sucht, muss ein Sektor oder eine Gruppe von Sektoren über die anderen dominieren; sei es mittels direkter Gewalt (durch physische Repression) oder über die Köpfe (durch ideologische, kulturelle und politischen Hegemonie). Wir leben in einer Zeit der Vorherrschaft der letzteren Tendenz. Und die Frage lautet: War das Handeln davon bestimmt, dass dieser Faktor der Schlüssel für das Vorgehen des politischen Gegners ist? Die Antwort ist „Nein“. Und die leeren oder aufgegebenen Räume wurden von der Machtideologie besetzt, die sich genau damit befasst hat, sie mit ihren irreführenden Inhalten und Vorschlägen zu füllen. Man muss sicher zur Kenntnis nehmen, dass das Aufkommen der popularen Regierungen eine gewisse Anpassung und Verflachung des Handelns der politischen und sozialen Akteure beförfdert und zu einem gewissen Rückgang des Protagonismus der zuvor sehr aktiven sozialen Bewegungen geführt hat, was erschwerend zu dem vorher ausgeführten hinzukommt.
Beweist dieser Rückgang oder diese Demobilisierung etwa, dass die sozialen Bewegungen in ihrem politischen Handeln kurzlebig oder begrenzt sind?
Es ist klar, dass die Jahre popularer Regierungsführung enorme Fortschritte in Sachen Rechte, soziale Gerechtigkeit, Anerkennung von Identitäten, Weltanschauungen und Völkern erreicht haben. Es handelte sich weder um ineffiziente Regierungen noch um solche, die es sich bequem gemacht hätten. Ihre Handlungen und Transformationen verwandelten, wenn nicht sogar die Wurzeln, die sozialen Verhältnisse und eröffneten eine Zeit der Chancen für alle.
Darunter sind zum Beispiel hervorzuheben die Alphabetisierung; das Programm „Null Hunger“; die Hilfsgutscheine für Kinder, Frauen und alte Menschen; der Zugang zu Wohnraum, Gesundheit und Bildung für breite Sektoren der Bevölkerung; entschiedene Schritte im Interesse der rechtlichen Gleichheit; die Anerkennung der Plurinationalität unserer Länder; die vollständige Anerkennung der indigenen Völker, ihrer Identitäten, Weltanschauungen und Lebensweisen; die soziale Aufwertung der Gemeinschaften und der kommunitären Lebensweise und Organisation; die Schaffung der Kommunen und der Kommunalen Räte; die Entwicklung ökologisch nachhaltiger Produktionsformen; die Rechte der LGTB; die Stärkung sozialer Organisationen und Bewegungen; die Rückgewinnung des Staates als Instrument zur Umverteilung des Reichtums zu Gunsten der historisch ausgeschlossenen popularen Sektoren, die von den herrschenden Klassen im Dienst der kolonialen Abhängigkeit ausgeplündert wurden und verarmten; die Fortschritte bei der regionalen und kontinentalen Organisation der fortschrittlichen popularen Regierungen und der Völker durch den Aufbau von Alternativen, die vom imperialistischen ökonomischen, politischen und kulturellen kolonialen Joch unabhängig sind, darunter Telesur, Celac, Alba und Unasur, die Fortschritte bei der Schaffung der Bank des Südens und die Veränderungen, die im Mercosur im Gang waren.
Nichts davon würde von den Mächtigen, die von der politischen Macht vertrieben wurden, zugegeben oder „vergeben“ werden. Heute, zwölf Jahre nach dem „Nein zu Alca“, kehren sie durch verschiedene Arten des demokratisch-justiziellen Neoputschismus, den sie für sich ausgearbeitet haben, gestärkt zurück. Damit wollen sie genau wie die einstigen Eroberer soziale Einebnung, Ausschluss und Negierung aller Rechte erreichen; jeglichen Widerstand niederschlagen, damit die Völker mit gesenktem Kopf und ohne es zu wagen, den Blick zu erheben und ihnen in die Augen zu sehen, sich ihren Absichten und Anforderungen unterwerfen.In einer Welt, in der es eine wachsenden Überbevölkerung und sinkende natürliche Ressourcen für das Leben gibt, sind Knechtschaft und neue Formen der Sklaverei an der Tagesordnung.
Aber nicht nur der Neo-Putschismus und die Massenkommunikationsmedien sind die Akteure der aktuellen Situation. Die kontinentale Gegenwart ist Teil des politischen Kräftemessens mit der Macht und ihren widersprüchlichen Dynamiken. Darauf haben auch innere Faktoren des popularen Lagers (als Bremse oder als Einschränkung) Einfluss genommen. Zum Beispiel die Vernachlässigung der politischen Arbeit, die Missachtung der popularen Teilhabe an der staatlichen Politik, die Unterschätzung des Aufbaus der Volksmacht von unten her, das Aufgeben oder die Vernachlässigung der politischen Bildung, die spärliche Schaffung von Räumen für den Austausch, die Diskussion und Reflexion zwischen den sozialen Bewegungen und mit anderen politischen Kräften oder der Linken; die Nichtbeachtung der Notwendigkeit, Wege und Inhalte zu suchen, um die Re-Organisierung der sozialen Akteure und ihrer politischen Subjektivität gemäß der neuen sozialen politischen Realitäten zu fördern, die in dem Maße entstehen, in dem sie von diesen geschaffen und aufgebaut wurden. In dieser Situation spielten außerdem auch andere Elemente eine Rolle.
Das Aufkommen der popularen Regierungen erzeugte dort, wo dies geschah, eine Veränderung in der gesellschaftspolitischen Situation. Das heißt: die sozialen Kräfte, die sich bis gestern noch organisiert oder zusammen getan hatten, um gegen die neoliberalen Regierungen und ihre Staaten zu kämpfen, kamen plötzlich in eine Situation der Übereinstimmung mit den Vertretern von Regierung und Staat. Diese Bedingungen veränderten die politischen subjektiven Eigenschaften der verschiedenen Akteure und führten rasch zur Auflösung der Grundlagen, die bis zu diesem Moment ihre Organisierung und Konstituierung als kollektiver Akteur ermöglicht hatten. In kurzer Zeit kam die Fragmentierung in verschiedene Bereiche erneut zum Vorschein.
Außerdem schien es, dass der „Feind“ mit dem Antritt der popularen Regierungen nebulös geworden war (und sich für viele sogar aufgelöst hatte), und dass die alte Zeit der Kämpfe keinen Sinn mehr hatte. Der Zeitpunkt schien gekommen, um zu „ernten“, was man mit so viel Schweiß und Tränen gesät hatte. Das heißt: politische oder staatliche Ämter zu besetzen, eine parlamentarische Vertretung zu haben, Ministerien, Regionalregierungen, Gemeinden, etc. zu leiten. Allgemein kann man sagen, dass sich jeder soziale Sektor auf sich selbst zurückzog und sich darauf konzentrierte zu verteidigen, was man als das ansah, was „einem zustand“. Das bilaterale Verhandeln mit den Regierenden setzte sich durch und dies nicht selten ohne Erfolg. Vielleicht weil beide Seiten ihre Positionen stärken wollten.
Auf diese Weise löste sich das politische Subjekt von gestern (von selbst) auf und verschwand aus der politischen Praxis. Die kollektive Subjektivität war bereits keine mehr.
Indem sich die Fundamente änderten, welche die zuvor für das kollektive Subjekt wesentliche Übereinstimmung möglich gemacht hatten, zugleich aber die Grundlagen unverändert geblieben waren, über die sich diese artikuliert hatte, wurde die Ausrichtung ihres soziopolitischen Ausdrucks in der neuen Zeit (populare Regierungen) brüchig und öffnete der Fragmentierung die Türen. Also zogen sich die Subjekte auf das zurück, was sie zu tun gewohnt waren: sie nahmen ihre defensiven sektoralen Praktiken mit ihren spezifischen Streitigkeiten wieder auf, isoliert vom „politisch-sozialen Ganzen“, an dem sie sich bereits nicht mehr als Mitbeteiligte empfanden.
Insgesamt begann die Entwicklung einer Tendenz zur Demobilisierung der Bewegungen. Es ging schon nicht mehr darum, auf der Straße um Rechte zu kämpfen, denn mit dem Antritt der popularen Regierungen waren diese bereits akzeptiert und anerkannt. Der Schwerpunkt wurde nun also darauf gelegt, Machträume auszuhandeln. Und so geschah es. Die Demobilisierung, durch Assimilation oder durch den Wegfall der historischen Führung der großen gewerkschaftlichen, indigenen und bäuerlichen Bewegungen oder politischen Parteigänger aus dem popularen Lager durch ihre Versetzung auf Posten in der Regierung oder auf Staats-, Bezirks- und Provinzebene, verdrängte allmählich die bisherige Fähigkeit zur politischen Offensive. Auf diese Weise wurden die sozialen und politischen popularen Kräfte, anstatt sich als politisch-soziale Zugkraft der politischen Umwälzungsprozesse in einer demokratische Revolution neu aufzustellen, zu einer Art von Partnern oder Auftraggebern neuen Typs der Regierungen.Die kritische revolutionäre Perspektive verlor damit wichtiges, unverzichtbares Terrain für die politische Auseinandersetzung, die noch in ihren Kinderschuhen steckt. Eine Auseinandersetzung, die weder ausschließlich noch prinzipiell theoretisch ist, sondern vor allem im Widerstand und dem Druck organisierter Völker und im Kampf auf den Straßen, in den Gemeinschaften und in allen Territorien des Landes besteht.
Dringende Aufgaben
Wie auch immer die aktuelle Situation der begonnenen demokratischen Prozesse sein mag, ob die Volksregierungen ihr Ende gefunden haben oder in Ausübung ihrer Funktionen und Verantwortlichkeiten fortfahren, so bestimmt doch der konservative imperialistische Angriff eine Gegenwart, in der es den fortschrittlichen oder linken Kräfte nicht ansteht, Verantwortliche oder Schuldige für Irrtümer, Beschränkungen oder Niederlagen zu suchen; vielmehr müssen sie inhaltlich ausgemacht werden, ob sie nun auf Seiten von sozialen Bewegungen oder Parteien zu finden sind – und wir müssen uns gemeinsam in Bewegung setzen, um die politischen Zielsetzungen zu präzisieren, die die heutige Zeit erfordert und die Herausforderungen zu definieren, die sich daraus ergeben. Darunter finden sich zum Beispiel:
A. Zurückgehen/Überwinden
● Das Fehlen von politischer Bildung und politischen Debatten in den sozialen popularen Bewegungen und den politischen Parteien der lateinamerikanischen Linken.
● Der Aufgabenfetischismus, der einmal mehr alle Dimensionen des politisch-sozialen Geschehens besetzt hat und durch den viele von ihnen nicht entwickelt wurden, in erster Linie die politisch-ideologisch-kulturelle Dimension der Veränderung. Dies ist ein leerer Raum, der von den Oppositionellen und ihren Medienkampagnen der politischer Manipulation besetzt und genutzt wurde.
● Die hierarchische Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen und seine Unterordnung unter die Politik der Partei, des Staates der Regierung .
● Die Auflösung des kollektiven politischen Subjekts. Es ist unabdingbar, sich auf neuen Grundlagen mit der Neuaufstellung des kollektiven (soziopolitischen) Subjekts zu befassen.
● Die abstrakte Apologie „der Demokratie“. Die errungene Demokratie schien ein ideologiefreier Raum zu sein, in dem sich jeder Einzelne im Streben nach seinem Wohlergehen ohne Probleme und ungehindert entwickeln könnte. Und so schien sich alles zu entwickeln, bis die oppositionellen Sektoren (die alte Macht) sich – angepasst an die neue Lage – wieder politisch bemerkbar machten. Also trat der Klassenkampf in der Demokratie über die politischen Kämpfe zwischen Opposition und Regierenden wieder klar zutage.
● Die Scheuklappen, die einer linearen, mechanistischen und dogmatischen Denkweise aus dem vergangenen Jahrhundert eigen sind und die in der politischen Kultur breiter Sektoren, Akteure und Intellektuellen, fortschrittlichen oder linksgerichteten Parteien des Kontinents weiterleben
B. Aktiv werden; die politisch-kulturelle Umzingelung durch die Macht und ihre Tentakeln durchbrechen
● Das Selbstvertrauen zurückgewinnen/stärken. Es ist dringend erforderlich, das Selbstvertrauen, den Sinn für soziale und politische Organisation zurückzugewinnen, Verbindungswege zwischen beiden Strömungen von Identität, Organisation, Aktion und Denken aufzubauen.
● Die von den Völkern und ihren popularen/fortschrittlichen Regierungen erzielten Erfolge anerkennen, wertschätzen und festigen. Sich nicht von übelwollender Propaganda mitreißen lassen, die versucht sie zu leugnen, Mängel zu erfinden oder zu überhöhen und darauf herumzureiten, in der Absicht die kollektive Erinnerung zu löschen, populare Politiker zu kriminalisieren, die Idee des Scheiterns und dass die Realität „nicht geändert werden kann“ einzuimpfen und dass nichts anderes übrig bleibt, als diese Welt so zu akzeptieren wie sie ist (Gewöhnung an Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Exklusion…).
● Aus der Umzingelung der Manipulation durch die Macht ausbrechen. Das ist entscheidend. Innerhalb erscheint alles, was des Volkes ist ,als sündig: die Politik, die Rechte, die Repräsentation und die Mobilisierung… Die „moralische Niederlage“, die die Mächtigen den (aus dem Amt ausscheidenden) popularen Regierungen attestierten, ist ein entscheidendes Element dafür gewesen, solchen Prozessen ein Ende zu setzen und auch den folgenden Regierungen als Legimitation zu dienen. Daraus ziehen sie ihre Rechtmäßigkeit und darauf begründen sie ihre neoliberale Politik der neuen Generation. Diese Belagerung zu verlassen ist unerlässlich, oder die Verurteilung zu einer endlosen Rechtfertigungsdefensive wird zur Zersplitterung und zunehmenden Schwäche des popularen Lagers führen.
● Die Denkweise ändern, alte Muster durchbrechen: die Trennung des Politischen vom Sozialen und seinen Subjekten, seinen Identitäten und Vorschlägen, seinen Organisationen und Aktivitäten. Natürlich stellen nicht alle das Gleiche dar oder vertreten das Gleiche, aber sie sind von dem Augenblick an grundlegend miteinander verbunden, in dem sie auf ein und dieselbe soziale Realität reagieren und darum kämpfen, sie entsprechend den kollektiven Interessen des Volkes zu verändern. Die Herausforderung besteht in diesem Sinne darin, weder Differenzierungen noch Verantwortlichkeiten und Rollen zu verwischen, sondern sie zu artikulieren, um eine machtvolle kollektive politisch-soziale Kraft der Befreiung aufzubauen (Mészáros).
● Sich gleichzeitig mit der politischen Bildung und mit den momentanen politischen Aktivitäten befassen. Dies darf nicht als „Indoktrinierung“ verstanden werden, sondern muss vor allem in der Rückgewinnung und der kritischen Reflexion der popularen Erfahrungen des Aufbaus der Volksmacht von unten verankert sein (im Ökonomischen, im Organisatorisch-Territorialen, im Kulturellen, im Sozialen, usw.).
● Die Teilhabe und die politischen Lernprozesse der Jugend fördern
● Der Demobilisierung, der Gleichgültigkeit entgegenwirken und schließlich verhindern, dass breite Sektoren des popularen Lagers (einschließlich Mittelklassen) in die Kommunikationsnetze der Massenmanipulation fallen, die von der Opposition produziert werden.
● Zur protagonistischen Teilhabe an allen Dimensionen des sozialen Lebens aufrufen, zur Beteiligung aller und jedes Einzelnen der Akteure/Individuen des popularen Lagers, um ihre Bereiche der territorialen und kommunitären Selbstermächtigung zu fördern. Den Praktiken ein Ende setzen, die sie dazu verdammen, bloße Zuschauer des soziopolitischen Prozesses von Veränderungen zu sein, bei dem sie hätten Ko-Protagonisten sein müssen. Was das betrifft, brauchen die parteipolitischen Sektoren einen politisch-kulturellen Sprung. Denn die Partizipation wird nicht nur dadurch erreicht, die anderen aufzurufen, sich anzuschließen; sondern auch und vielleicht vor allem muss man dort sein, wo die Leute leben, in den Gemeinschaften, in dem Kommunen, in den Stadtvierteln, auf dem Land… um sich auszutauschen, zuzuhören und miteinander zu sprechen. Das beinhaltet auch, die Massenversammlungen wiederzubeleben; die Stärke der politischen Beziehung von Mensch zu Mensch, Haus für Haus und an den Arbeitsplätzen wiederzuerlangen.
Die Politik ist dort, wo das Volk in seiner ganzen Vielfalt ist; seinen Protagonismus herbeiführen, dazu beitragen ihn zu organisieren und wo nötig zu stärken; all das beinhaltet heute, die populare Partizipation zu fördern.
Den sozialen, popularen, indigenen, gewerkschaftlichen und Jugendbewegungen… bietet sich heute ein neues Szenario sozialer, kultureller und politischer Auseinandersetzung. Und das politische Gewicht ihres Protagonismus wird sich positiv zeigen, wenn es angenommen und entwickelt wird, oder negativ, wenn es leer bleibt.
● Das politische Subjekt, die kollektive soziopolitische Leitung aufbauen oder wiederaufbauen. Dies ist eine Arbeit, die sich nur aus dem Handeln und dem Willen der Akteure selbst ergeben kann. Kann man diesen Prozess fördern oder dazu beitragen? Definitiv ja; alle können dies tun. Zum Beispiel indem man Workshops für die Produktion kollektiven Wissens entwickelt, um die Kernpunkte der Überschneidungen und Wirkungszusammenhänge von Realitäten, Identitäten, Problematiken und Akteuren (samt ihrer Subjektivitäten) als Grundlage für ihre Verbindungen wieder zu identifizieren und aufzuzeigen. Und dies immer begleitet von Praktiken der Begegnung und des Dialogs zwischen allen und mit allen, in dem Bewusstsein, dass sie die wichtigste pädagogische Kraft darstellen.
Warum an eine kollektive politische Führung denken und nicht an eine „Avantgarde“?
Es gibt verschiedene Gründe. Ich werde hier einige davon hervorheben: einerseits, weil eine kollektive Führung sich nicht auf die hierarchische Unterscheidung der Subjekte gründet; es gibt keine „Fortgeschrittenen und Zurückgebliebenen“. Ob man will oder nicht, wenn es Fortgeschrittene oder weiter Entwickelte gibt, dann gibt es auch Zurückgebliebene, Rückständige, Nachrangige… Man sagt das nicht so, aber so kommt es in der politischen Praxis zum Ausdruck; das ist das Schlimme. Anstatt zur Stärkung der Organisierung und Einheit beizutragen, ist die Avantgarde bestrebt, ihre Abgrenzung und die Unterordnung der „Anderen“ unter das zu suchen, was sie entscheidet; das ist eine unvermeidliche Folge. Von daher haben sich die Avantgarden schließlich als ineffizient erwiesen, sowohl um kollektive Prozesse als auch, um Regierungen zu führen. Das Volk will nicht „herabgesetzt“ werden, sondern Protagonisten sein. Und wenn es das in der politischen Sphäre, der es angehört, nicht umsetzen kann, nutzen das die Gegner ‒ die sich dessen bewusst sind ‒ dazu, ihnen alles zu versprechen, was sie sich wünschen; was, kurz gesagt, einen Protagonismus von fünf Minuten bedeuten würde, der den Weg zu seiner Unterwerfung und Zerstörung ebnet.
● Die Einheit des popularen Lagers stärken. Was gestern nicht getan wurde, kann man nicht mehr ändern. Man kann jedoch heute sehr wohl das tun, was der Gegenwart angemessen ist, indem man sich der aktuellen Situation extremer Gefahr für das Leben der Menschheit bewusst wird. Die indigenen, gewerkschaftlichen, bäuerlichen, städtischen und ländlichen popularen Bewegungen, die Bewegungen von Jugendlichen, Frauen, LGTB, etc. sind dabei entscheidend; ihre Neuformierung ist unverzichtbar. Dies wird jedoch weder als Ergebnis einer Rede noch einer Konferenz geschehen, Es ist essentiell, dass diese Subjekte in ihrer Vielfältigkeit die Grundlagen der Verbindung und der Wechselbeziehung zwischen ihnen und mit der Gesellschaft, der institutionellen Organisation sowie ihrer politischen Repräsentation in der individuellen und kollektiven Arbeit entdecken. Die Fragmentierung ist der Nährboden jeder Niederlage; die Einheit ist das größte Gegenmittel, Schild und Speer. Räume für Begegnung, Reflexion und Organisation in diesem Sinne zu fördern, ist in dieser Zeit eine der politischen Aufgaben schlechthin.
An die Arbeit.
1. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone, die in Lateinamerika auf breiten Widerstand stieß, wurde beim Amerikagipfel 2005 in Mar del Plata von den Präsidenten Argentiniens (Néstor Kirchner), Venezuelas (Hugo Chávez) und Brasiliens (Luiz Inácio Lula da Silva) zurückgewiesen und war damit gescheitert
https://amerika21.de/analyse/193717/lateinamerika-soziale-bewegungen