Lauscherei und Wissensklau
Die Hauspostille der US-amerikanischen Geheimdienste, das „Wall Street Journal“, wartete in ihrer Morgenausgabe vom 8. Juni mit einer besonders dramatischen Nachricht auf. Wie aus „verlässlichen Geheimdienstkreisen“ verlaute, beabsichtige die Volksrepublik China, auf Kuba eine gigantische Abhöranlage zu errichten, mit der sämtliche Kommunikation zwischen den um die sozialistische Insel gruppierten US-Militärstützpunkten abgefangen werden könne. Kuba und China hätten sich schon vertraglich geeinigt, die Chinesen würden für die Baugenehmigung der Anlage „mehrere Milliarden US-Dollar“ an Havanna zahlen. Nachdem alle überregionalen Nachrichtensender die Story fleißig verbreitet hatten und die Meldung auch schon begierig von deutschen Medien lanciert worden war, trat ein sichtlich ratloser John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, nachmittags vor die Presse: „Ich habe diesen Pressebericht gesehen. Er ist nicht richtig.“
Damit die kurzen Beine der offensichtlichen Lüge nicht gar so peinlich sichtbar sein sollten, hieß es zwei Tage später ergänzend, zutrauen könne man es den Chinesen natürlich. Die Halbwertzeit der Spionagelügen gegen China wird immer kürzer; der „Big Fake“ von chinesischen Wetterballons, die – nach „CIA-Informationen“ – mit Abhörtechnik vollgestopft gewesen seien, ist noch in guter Erinnerung.
Auch deutsche Medien beteiligen sich eifrig am Wettlauf um die beste Fantasiegeschichte aus der geheimnisvollen Welt internationaler Spionage. „Investigativjournalisten“ des „Handelsblatts“ sorgten in der Ausgabe vom 6. Juni für die Aufdeckung eines „Spionagekomplotts“. Unter Bezug auf Informationen „aus Sicherheitskreisen“ sei jetzt – sieben Jahre nach der „Spionageattacke“ – aufgedeckt worden, dass ein bei einem „norddeutschen Medizintechnikunternehmen“ hospitierender chinesischer Doktorand Informationen abgegriffen habe. Für Wissenschaftler total unüblich, habe er „ein übermäßiges Interesse an der Technik der Firma entwickelt“ – und noch schlimmer: Der chinesische Staat habe ihm als Gastwissenschaftler den Aufenthalt finanziert, auch das total unüblich. Nachdem er zurück in China war, sei dort ein Patent für eine antimikrobielle Oberflächentechnologie erteilt worden. Das sei mit dem technischen Wissen erfolgt, das der Doktorand in Deutschland erworben habe.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser zeigte sich nach Bekanntwerden des Falls sofort „besorgt“ – die Bundesregierung ist, wie das „Handelsblatt“ schrieb, „alarmiert“. In der Hektik ihrer „Investigation“ haben die „Handelsblatt“-Schreiberlinge augenscheinlich ganz einfache Dinge übersehen: Bevor ein Patent den Segen eines Patentamtes bekommt (das ist in China, dessen Patentrecht dem deutschen gleicht, nicht anders als sonstwo auf der Welt), wird die Patentschrift veröffentlicht, damit das interessierte Fachpublikum binnen Frist Einwände erheben oder Widerspruch einlegen kann. Dazu haben 157 Staaten der Erde die internationale Patentplattform „WIPO“ ins Leben gerufen – Deutschland ist seit 1978, China seit 1994 dort Mitglied. Folglich ist entweder gegen das vermeintlich erspionierte Patent niemals ein Einwand erhoben worden oder die Story vom „Wissensklau“ konnte nicht bewiesen werden. Von der bürgerlichen Journaille Recherche zu fordern, ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Hauptsache, man kann die zurzeit etwa 4.000 chinesischen Gastwissenschaftler unter den Generalverdacht der Spionage stellen.