Wachablösung
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Von Ken Merten
Der Nachbar baut eine neue Etage. Er bringt ein Wellblechdach an. Wenn er etwas von unten braucht, wirft er getrockneten Zement auf das Vordach, dann werden ihm Nägel gegeben, oder ein Kantholz, mit dem er die Blechstücke verschiebt.
Hier in Santiago ist die Wassersuche schwierig. Das abgefüllte stille Wasser Marke Ciego Montero ist gerade rar und findet man es, dann ist es meist recht teuer. Wer eine Filterflasche hat, ist klar im Vorteil, das Leitungswasser vertragen nicht alle. Wir erreichen den Cementerio Santa Ifigenia, der zwischen Kanalabzweigungen des Arroyo de Yarayó im Nordwesten der Stadt liegt, in der Mittagshitze. Wenigstens geht Wind. Die riesige Fahne am Eingang bewegt sich lautlos. Aus dem Hauptportal des 1868 eingeweihten Friedhofs tritt die Wachablösung: frisch rasierte Männer und eine Frau, jung, olivgrüne Uniformen, saubere Gewehre, die an den hinteren Schäften etwas abgegriffen sind. Marschmusik wird gespielt und erinnert an den Soundtrack eines Sandalenschinkens. Die Lackstiefel machen durch die Gräberreihen hallende Klackgeräusche – den Stechschritt beherrschen alle, einige elegant, andere energisch. Die Ablöse steht dem anderen Wachtrupp gegenüber, man schaut knapp aneinander vorbei. Dann erfolgt der Wechsel: Den Wachhabenden steht ein kleiner Sonnenschutz zu, in dessen kreisrunden Schatten sie sich reglos stellen.
Wo sie wachen? An den Gräbern der Eltern des Heimatlandes, Mariana Grajales (1815–1893) und Carlos Manuel de Céspedes (1819–1874), erster Präsident der um Unabhängigkeit kämpfenden República en Armas, der Republik in Waffen. Sie bewachen auch das Grab des »Apostels der Unabhängigkeit«, des Nationalhelden José Martí (1853–1895), der im Kampf gegen die spanischen Kolonialisten fiel, und dessen Tod in jungen Jahren – so der 2008 verstorbene Historiker José Cantón Navarro in seinem Standardwerk »Die Geschichte Kubas. Die Herausforderung des Jochs und des Sterns« (1996) – die progressivsten Kräfte unter den antikolonialen Kräften jener Zeit »spürbar« geschwächt »und zum Scheitern der patriotischen, demokratischen und sozial fortgeschrittenen Ziele der Revolution« beigetragen habe.
Martís Mausoleum ist ein sechseckiger Turm mit Karyatiden an jeder Ecke, um zu illustrieren, dass Kuba damals in sechs Provinzen gegliedert war. Darin ein thronender Martí aus Marmor, wachend über seine eigene Urne eine Etage tiefer. An der Architektur zwischen antikem Klassizismus und Monumentalismus erkennt man, dass der Bau von vor der sozialistischen Revolution stammt. Er wurde 1951 eingeweiht. Rechterseits, wie die Gräber von Padre y Madre de la Patria dem Martí-Mausoleum vorgelagert, befindet sich der Grabstein Fidel Castros. Seine Asche liegt dort seit Dezember 2016, nachdem sie auf dem Weg der »Caravana de la Libertad« vom Januar 1959 zurück nach Santiago gebracht wurde. Das Grab ist das schlichteste der drei prominentesten. Der von einem niedrigen Zaun und einfachen Kettenpfosten gerahmte Grabstein ist ein Findling. Auf dem darauf angebrachten Schild steht nur der erste Vorname, der Rufname des Revolutionärs und Staatschefs: Fidel. Davor eine kleine Bank.
Der Militär (er gehört nicht zu den Wachmannschaften) weist uns ein und fragt nach unserer Herkunft. »Dort«, sagt er und zeigt auf die Urnenwand neben Fidels Grab, »ist die Asche von Kämpfern, die klandestin den Kampf gegen Batista führten, die mit Fidel die Moncada-Kaserne angriffen, mit der Granma nach Kuba übersetzten, und für den Ejército Rebelde fielen«. Die Gräber im hinteren Bereich des Friedhofs gehören Mitgliedern der Bewegung des 26. Juli, darüber flattern die rot-schwarzen »M-26-7«-Fahnen.
Die Wachablösung geschieht halbstündlich. Wir müssen warten, bis die nächste vorbei ist. Abends steigen wir mit Sonnenbrand in den Fernbus und verlassen Santiago. Es geht ein letztes Mal nach Havanna.