»Hier ergibt sich niemand!«
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Von Ken Merten
Sechs Monate Kuba gehen zu Ende. Ein halbes Jahr Abklopfen, Mitmachen und Inspizieren eines Sozialismus im krisenreichen Jahr 2022. Weder jene, die die Karibikinsel zum Paradies erklären, noch jene, die behaupten, die Niederlage der Kubanischen Revolution sei längst überfällig, haben recht. Doch da, wo sie falschliegen, steckt auch etwas Wahres: Die Zeiten sind hart, Kuba antwortet systemgemäß sozial und muss dabei stets bescheiden bleiben. Ob das vom Wirtschaftsministerium im Dezember letzten Jahres prognostizierte Wachstum der kubanischen Ökonomie um vier Prozent wirklich erreicht wird, muss sich noch zeigen.
Widerstände, menschengemacht oder nicht, gibt es jedenfalls viele: die Auswirkungen der Coronapandemie und des Krieges in Osteuropa, die Explosion des Hotels »Saratoga« einen Tag vor dessen Eröffnung Anfang Mai in Havanna, der Blitzeinschlag und anschließende Großbrand im Schweröllager in Matanzas im August, die schweren Unwetter Anfang Juni und Ende September, und natürlich die von US-Präsident Donald Trump verschärfte und von seinem Nachfolger Joseph Biden nahtlos fortgesetzte Wirtschaftsblockade, die Kuba seit über 60 Jahren knebelt.
Die schwerste Krise seit der sogenannten Sonderperiode der 1990er mag zu Pessimismus verleiten, doch die Worte des späteren Vizepräsidenten des Staatsrats Juan Almeida Bosque kurz nach Anlanden der Revolutionäre mit der Yacht Granma im Dezember 1956, während der ersten Feindkontakte mit Batistas Soldaten, behalten ihre Gültigkeit: »¡Aquí no se rinde nadie!« (»Hier ergibt sich niemand!«) – die hintangeführte Forderung Bosques nach »¡Cojones!« soll der historischen Korrektheit wegen nicht vergessen sein.
Ein Programm zur lokalen Entwicklung, Feldversuche für neue Wege der Lebensmitteldistribution, Versuche, der Inflation entgegenzuwirken, das Ankurbeln des zukunftsträchtigen Öko- und Gesundheitstourismus – Kuba »lebt und arbeitet« wie das Motto des diesjährigen 1. Mai lautete. Es arbeitet sich, bei allen Fehl- und Rückschlägen aus der Krise. Genaue Blicke lohnen, mit dem sozialistischen Kuba ist und bleibt zu rechnen.
Bevor wir mit dem Flieger nach Madrid düsen und von dort zurück nach Frankfurt am Main in eine kleine Maschine der spanischen Airline Iberia steigen, die für ihre innereuropäischen Flüge eine Tochtergesellschaft mit dem drolligen imperialistischen Titel »Air Nostrum« betreibt, machen wir in Havanna einen letzten Besuch.
Das Centro Inmunología Molecular (CIM) hat als Staatsunternehmen hohen Stellenwert, zu sehen daran, dass Busse die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter transportieren, aber auch daran, dass das CIM überhaupt hausgehalten wird. Die dort betriebene Forschung und besonders die Herstellung pharmazeutischer Produkte verlangt nach Millionen Litern Wasser und frisst das Vierfache des Stroms, den das Municipio Playa verbraucht, in dem sich das Zentrum befindet. Dafür sind die Erzeugnisse »criollo«, die Zellteilung zur Gewinnung der Proteine, die zur Produktion notwendig sind, geschieht hier und ist damit relativ unabhängig von Importen.
Verwendet werden die Ressourcen unter anderem zur Herstellung von Stoffen gegen Krebs und Corona – Bedarf gibt es dafür natürlich im kleinen Land, aber der Aufwand wird auch betrieben, um als Arzneiproduzent nach außen zu treten. Als solidarische Spender von Coronaimpfstoffen an andere Länder der sogenannten Dritten Welt, aber auch als relevanter Marktteilnehmer. Von den 1.700 Angestellten des Unternehmens arbeiten einige auch in Außenstellen und Joint Ventures, darunter in China, Singapur, Thailand und Düsseldorf. In 100 Ländern hat das CIM Lizenzen zum Vertrieb seiner Medikamente.
»In Relation zum Bruttoinlandsprodukt hat Kuba ein ungemein hohes Bildungsniveau«, sagt uns der 73jährige Augustín Lage Dávila, Direktor des Zentrums und Nationalparlamentsabgeordneter seit 1993. Das ist Kubas größte Produktivkraft. »So etwas schafft aber auch Probleme.« Anreize für Akademikerinnen und Akademiker, für das CIM zu arbeiten, statt das Land zu verlassen oder in einer Hotelbar zu kellnern, werden nicht nur durch den Shuttleservice und das beste Kantinenessen, das zumindest ich in meiner Zeit auf der Insel erlebt habe, gegeben. Der Lohn ist an die Gewinne des 2012 gegründeten und mit dem CIM verbundenen Staatsunternehmens Bio-Cuba-Farma gebunden, heißt: Hier wird für einen nichtprivaten Sektor Arbeit durchaus ansprechend bezahlt.
Die Hoffnungen, die auf Kubas medizinischer Forschung und Medikamentenherstellung liegen, sind groß und nicht unbegründet. Denn die Errungenschaften zur Prävention von Krebs und zur Abmilderung von Krankheitsverläufen lassen auch den Imperialismus seine eigene brutale Blockadepolitik vergessen – es bestehen Kooperationen zwischen dem CIM und dem Roswell Park Comprehensive Cancer Center in Buffalo im US-Bundesstaat New York. Kuba, scheint es, macht sich zu wichtig, als dass man es schlicht wegblockieren könnte.
Der Autor berichtet auf der Frankfurter Buchmesse beim Cuba-libre-Empfang am junge-Welt-Stand von seinen Erfahrungen auf Kuba im Krisenjahr 2022. Halle 3.1, B 48, Fr., 21.10.2022, 17 Uhr