»Wir benötigen ein radikaleres Programm«
Den Reden des brasilianischen Präsidenten könnten bald Taten folgen. Kommunisten für grundlegende Transformationen. Gespräch mit Manuela D’Avila
Interview: Torge Löding
Die Journalistin und Autorin Manuela D’Avila ist eine der bekanntesten Politikerinnen der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB). Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 trat sie als Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin zusammen mit Fernando Haddad (PT) an. In Porto Alegre erhielt sie im November 2020 bei der Bürgermeisterwahl 45 Prozent der Stimmen
Die politische und gesellschaftliche Polarisierung in Brasilien nimmt weiter zu. Präsident Jair Bolsonaro und seine Wählerbasis agieren zunehmend aggressiver und konfrontativer. Wie reagiert die politische Linke auf diese Herausforderung?
Die Polarisierung in Brasilien findet auf zwei Ebenen statt. Zunächst auf einer, auf der in den Institutionen die demokratischen Rechte und die Integrität dieser Institutionen verteidigt werden. Und zwar gegen die Kräfte, die einen autoritären Staat wollen und dem Kommando von Bolsonaro folgen. Die andere Ebene ist die wachsende Bewegung auf den Straßen, eine Massenbewegung. Vorläufig ist offen, welche der beiden Seiten mehr Anhänger mobilisieren kann. Viele Gegner von Bolsonaro haben Angst wegen der Pandemie, aber auch wegen drohender Gewalt. Wir müssen uns auf eine staatliche Praxis vorbereiten, die den Reden von Bolsonaro Taten folgen lässt. Damit meine ich zum Beispiel seine Drohung gegenüber Institutionen wie dem Obersten Gerichtshof. Seine Anhänger engen demokratische Spielräume immer weiter ein. Beispiele dafür sind der Wortlaut des Aufrufs zur Demonstration am Unabhängigkeitstag am 7. September, die dauernde Drohung mit einem Militärputsch und bemerkenswerte, offen antidemokratische Äußerungen aus der Militärpolizei. In São Paulo möchte Bolsonaro am 7. September persönlich auftreten und den von ihm nicht kontrollierten demokratischen Institutionen eine »letzte Warnung« erteilen. Die traditionelle Demo des »Schreies der Ausgestoßenen«, die krititisch auf die fünf Jahrhunderte der Kolonialisierung Bezug nimmt, muss vermutlich an einen anderen Ort ausweichen.
Mit welchem Programm tritt denn die Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) in diesem historischen Moment an? Geht es der Partei um die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie oder um eine sozialistische Transformation der Gesellschaft?
Die Verteidigung der Institutionen der bürgerlichen Demokratie und ihrer vermittelnden Rolle in der Gesellschaft ist für uns Teil des Kampfes für eine Demokratie, auch wenn diese noch viele Fehler und Schwächen hat. Aber sie sind Garant für eine antiautoritäre Verfasstheit des politischen Systems. Es ist aber gleichzeitig klar, dass wir im Kampf gegen die autoritäre Regierung von Jair Bolsonaro ein radikaleres Programm für grundlegende Transformationen benötigen.
Wie steht es aktuell um das gesellschaftliche Kräfteverhältnis in Brasilien? Welche Bewegungen haben ein besonderes Gewicht?
Die Bewegungen, die heute besonders stark Widerstand gegen Bolsonaro und den Bolsonarismus leisten, sind zum Beispiel die feministische Bewegung gemeinsam mit der antirassistischen Bewegung von Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianern. Da braucht man nur einmal auf die Wahlergebnisse zu schauen: Wenn es nach den Frauen und den Afrobrasilianern gegangen wäre, wäre Bolsonaro nicht Präsident. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dass der Kampf für ein soziales und gerechtes Brasilien zwingend mit dem Kampf um Geschlechtergerechtigkeit und gegen Rassismus verbunden werden muss. In dieser Verbindung liegt die Kraft, mit der wir den Bolsonarismus zurückdrängen können.
Gibt es eine Chance für eine Amtsenthebung von Bolsonaro vor den kommenden Präsidentschaftswahlen, angesetzt für Oktober 2022?
Nein, ich sehe keine realistische Chance für so ein Szenario. Die grosse Mehrheit der Parlamentarier im Abgeordnetenhaus ist unglaublich weit von der Lebensrealität der Menschen in Brasilien entfernt, die in diesen Tagen gegen Bolsonaro auf die Straße gehen. Sie haben noch nicht einmal einen Untersuchungsausschuss wegen seiner Coronapolitik eingesetzt. Das hat nur die andere Parlamentskammer, der Senat, getan. Das zeigt auch die Größe der Niederlage, die wir bei den Wahlen 2018 erlitten haben. Und die Notwendigkeit einer Neuformierung unserer Kräfte für die nächste Wahl.