Spiel auf Zeit
Bolivien: Termin für Präsidenten- und Parlamentswahl steht. Zweifel an fairen Bedingungen für soziale Bewegungen und linke Parteien
Von Volker Hermsdorf
Nach dem Staatsstreich sollen in Bolivien am 3. Mai ein neuer Präsident und das Parlament gewählt werden. Der Vorsitzende des Obersten Wahlgerichtshofs (TSE), Salvador Romero, hat den Termin der Neuwahlen knapp zwei Monate nach dem Putsch am Wochenende auf einer Pressekonferenz bestätigt. Der detaillierte Zeitplan, der Ablauf und das Budget für den Wahlprozess sollen Anfang dieser Woche veröffentlicht werden. Ein eventuell notwendiger zweiter Wahlgang muss nach dem geltenden Gesetz dann innerhalb von 45 Tagen nach der ersten Abstimmung erfolgen. Dies werde jedoch nicht vor dem 15. Juni sein, erklärte Romero.
Nach dem erzwungenen Rücktritt des bisherigen linken Präsidenten Evo Morales am 10. November und seiner Ablösung durch die ultrarechte Senatorin Jeanine Áñez Chávez, die sich zwei Tage später selbst zur »Interimspräsidentin« erklärte, hatten sich die im Parlament vertretenen Parteien auf Neuwahlen verständigt, um die innenpolitische Krise zu lösen. Die Wiederholung der mittlerweile annullierten Wahl vom 20. Oktober, bei der Morales mit zehn Prozentpunkten Vorsprung gewählt worden war, soll laut der Wahlbehörde »mit Unterstützung der OAS« erfolgen. Beobachter dieser von den USA dominierten Organisation hatten nach dem Sieg von Morales behauptet, die Abstimmung sei »gezielt manipuliert« worden. Damit lieferte die OAS eine Rechtfertigung für gewalttätige Aktionen rechter Oppositioneller, die letztlich zum Sturz des gewählten Präsidenten führten. Beweise für die unterstellten Manipulationen wurden bis heute nicht vorgelegt.
Morales’ ehemaliger Wirtschaftsminister Luis Arce Catacora, ein möglicher Spitzenkandidat der »Bewegung für den Sozialismus« (MAS), bezweifelt deshalb, dass Kandidaten linker Parteien und sozialer Bewegungen bei den Neuwahlen eine faire Chance haben würden. »Angesichts der derzeitigen Repression und der Verfolgungen in Bolivien kann es keine sauberen und transparenten Wahlen geben«, sagte Arce. Viele Mitglieder der Wahlgremien seien nicht unparteiisch, sondern »sehr anfällig für die Zusammenarbeit mit rechten Parteien«, erklärte der Ökonom einem Bericht der russischen Agentur Sputnik zufolge.
Die Position der seit dem 12. November faktisch regierenden Putschpräsidentin Áñez wird von Völkerrechtlern kritisch gesehen. Da die Plurinationale Legislative Versammlung, das aus 130 Abgeordneten und 36 Senatoren bestehende Parlament Boliviens, noch nicht zusammengetreten sei, um den von Morales erklärten Rücktritt formal anzunehmen, sei dieser bis zum Ende seiner Amtszeit am 22. Januar weiterhin der einzig rechtmäßige Präsident des Landes, erklärte am Donnerstag der ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs von Argentinien, Eugenio Raúl Zaffaroni. Der international angesehene Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gehört zu einem Anwaltsteam, das Morales gegen die Angriffe der Putschisten vertritt.
Gemäß der bolivianischen Verfassung hätte am 22. Januar eine neu gewählte Regierung die Amtsgeschäfte übernehmen müssen. Da der Termin nach dem Putsch und den damit verbundenen sozialen Unruhen nicht einzuhalten ist, hatte Morales aus dem argentinischen Asyl erklärt, dass die faktische Präsidentschaft am 22. Januar auf die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, María Cristina Díaz, übergehen müsse. Obwohl die Anwältin Díaz von dem ehemaligen Vorsitzenden des rechten »Bürgerkomitees von Santa Cruz«, Luis Camacho, einem Hauptakteur des Staatsstreichs, selbst für den Posten der Obersten Richterin vorgeschlagen worden war, klammert sich Jeanine Áñez an die Macht, die sie auf legalem Weg nie errungen hätte. Ihre erzkonservative Partei »Movimiento Demócrata Social« stellt lediglich vier der 130 Abgeordneten des Unterhauses und nur einen von 36 Senatoren. Dennoch hatte Áñez zum Jahreswechsel gegenüber Reportern erklärt, sie halte es für »angemessen«, ihre Amtszeit über den 22. Januar hinaus zu verlängern, um bis zur Neuwahl ein »Machtvakuum« zu vermeiden.
Das Putschistenregime spielt auf Zeit. Nachdem Morales und andere Mitglieder seiner Regierung ins Exil fliehen mussten oder in der mexikanischen Botschaft Schutz vor politischer Verfolgung suchten, wurden die Medien gleich- und Kritiker ausgeschaltet. So haben etwa seit November 53 alternative Gemeinderadiostationen ihre Berichterstattung einstellen müssen, die Nachrichtensender Telesur und RT werden nicht mehr ausgestrahlt. Trotz erheblicher Verleumdungsversuche erreichte die »Bewegung für den Sozialismus« (MAS) jedoch in einer am Freitag von Telesur veröffentlichten Meinungsumfrage des Instituts »Cismori« die höchsten Zustimmungswerte im Vorfeld der angekündigten Neuwahlen.
Manifestation: »Solidarität mit den progressiven Kräften Lateinamerikas«, 11. Januar 2020, XXV. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz
www.rosa-luxemburg-konferenz.de
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